Eine Rezension von Helmut E. Günter

Nichts Neues von Winnetou

Michael Petzel: Das große Karl-May-Lexikon
Von der Wüste zum Silbersee:
Der große deutsche Abenteuer-Mythos. Alles über die Winnetou-Welt.
Lexikon Imprint Verlag, Berlin 2000, 416 S.

Wie es scheint, leben wir im Zeitalter der populären Nachschlagewerke, deren Anzahl auf den Wühltischen des Billig-Buchhandels täglich zunimmt; für wirklich Wissensdurstige liegt inzwischen selbst die Encyclopedia Britannica auf CD-ROM vor. Der auf diesem Gebiet besonders emsige Imprint(Abdruck?)-Ableger des Berliner Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlags bietet neben Fantasy-, Cannabis-, Vinyl- und dem Lexikon der deutschen Live-Szene ein Punk-, ein Lexikon der Monster, Geister und Dämonen und das der prominenten Selbstmörder an. Weshalb also nicht auch eins für den unsterblichen sächsischen Fabulierer Karl May, der kaum noch als umstritten gelten kann, seit sich die deutsche Literaturwissenschaft mit Vehemenz auf ihn geworfen hat und selbst die schlimmsten seiner Kolportage-Heftchen als Reprint vorliegen.

Michael Petzel, Karl-May-Archivar aus Göttingen, Autor eines Karl-May-Filmbuchs und Veranstalter von großen Festveranstaltungen, „die von Prominenten wie Elke Sommer, Klaus Maria Brandauer, Pierre Brice, Otto Waalkes und Theo Waigel besucht wurden“, hat das dickleibige Werk zusammengestellt. Seine Fleißarbeit reicht von Abenteuer bis zur Zürcher (KM-)Ausgabe von 1992 und umfaßt so ziemlich alles, was dem Old-Shatterhand- und Kara-ben-Nemsi-Adepten geläufig sein sollte. Opulent und ausführlich nimmt sich Petzel vor allem Mays Nachwirkung in den letzten Jahrzehnten vor. Da bleiben kein Film und keine deutsche Freilichtbühne samt der darin/darauf Agierenden ungenannt. Selbst Johannes Rau, als „Starker Johannes“ Ehrenhäuptling der KM-Spiele Bad Segeberg, und Erich Honecker, der 1985 gnädigst die Erlaubnis zur Wiedereröffnung des Radebeuler KM- Museums erteilte, sind neben jedem einzelnen Schauspieler erwähnt, der jemals ein Lüftchen in Richtung KM hat streichen lassen. Nur Senta Berger hat nie gewollt und kommt dennoch bei Petzel vor, dem es an einer lockeren Haltung seinem Thema gegenüber keineswegs gebricht. Sogar die KM-Andenkenindustrie ist verewigt.

All das ist reich illustriert, mit (größtenteils nicht zum Thema gehörenden) Filmographien, Autogramm- und Internetadressen wohl versehen. Während beispielsweise Victor de Kowa - „spielte in Winnetou und sein Freund Old Firehand (1966) den Ravenhurst (die Figur kommt bei Karl May nicht vor)“ - samt politischem Engagement ausführlich gewürdigt wird, ist in der Biographie Herbert „Derrick“ Reineckers die NS-Karriere vornehm verschwiegen. Außerdem vermißt man wichtige Orte aus der KM-Biographie wie Dessau, Mittweida oder Penig. Erstaunlich knapp ausgefallen ist auch das Literaturverzeichnis, soweit nicht unter einzelnen Stichwörtern auf die überreiche Sekundärliteratur eingegangen wird. Stehen doch den 99 Bänden der historisch-kritischen Werkausgabe des Radebeuler Aufschneidemeisters (Nördlingen, dann Zürich, jetzt Bargfeld 1987 ff.), dem Arno Schmidt seine heftig befehdete Studie Sitara und der Weg dorthin widmete, eine Fülle von Büchern und ungezählte Beiträge in den Jahresbänden und sonstigen Materialien und Veröffentlichungen der KM-Gesellschaft gegenüber.

Auch Petzels Lexikon, das die Berliner Landesbibliothek vorsichtshalber ein halbes Dutzend mal angeschafft hat, ist keineswegs ohne Vorläufer. Zuletzt erschien 1999 bei Reclam ein überaus unterhaltendes Karl-May-ABC, die bio- und bibliographischen Arbeiten von Heiner Plaul und Christian Heermann, der auch die Reisen zu Karl May verfaßte. Die Große Karl May Biographie von Hermann Wohlgschaft (Paderborn 1994; 840 großformatige Seiten) und Bernhard Kosciuszkos Großes Karl May Figurenlexikon gehören zu den Standard-Nachschlagewerken in jeder KM-Bibliothek.

Wem es weniger wissenschaftlich genügt und wer mit einem Blick des unsterblichen Hadschi Halefs zwölfteiligen Namen erfassen will und dazu die Namen und Fotos sämtlicher Schauspieler, die ihn je verkörpert haben, oder wer wissen möchte, welche KM- Figur beständig den Ausspruch: Ik ben een ongelukkige njilpaard im Munde führte (Mijnheer van Aardappelenbosch), wird bei Petzel allemal fündig. Ja, selbst der KM-Bewanderte stößt auf unbekannte Sensationen. Der Rezensent gesteht beschämt, nicht gewußt zu haben, daß die Schut-Melodie aus dem Film „Der Schut“ 1964 eine Woche lang auf Platz 49 der bundesdeutschen Hitparade lag.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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