Eine Rezension von Ursula Reinhold

Wo blieben die Demokraten?

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen
Die Erinnerungen 1914-1933.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, 240 S.

Von Sebastian Haffner (1907-1999), der sich durch eine Reihe aufschlußreicher historischer Bücher (Churchill; Anmerkungen zu Hitler; Preußen ohne Legende; Von Bismarck zu Hitler) einen Namen gemacht hat, liegt mit diesem Buch ein noch niemals veröffentlichtes Werk aus dem Nachlaß vor. Es ist 1939 in der englischen Emigration geschrieben worden und trägt das Siegel dieser Entstehungszeit. Seine Herausgabe ist äußerst verdienstvoll, denn die Arbeit unternimmt es, sich unter dem noch frischen Eindruck des Endes der ersten deutschen Republik und der Machtergreifung der Nationalsozialisten Rechenschaft abzulegen, analytische Aufschlüsse über diese Vorgänge zu gewinnen. Haffner erzählt anhand der ersten Abschnitte des eigenen Lebens die Geschichte eines jungen Mannes aus bürgerlich-konservativer Familie, der den Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Abbruch des gewohnten Ferienidylls erlebt. Die Niederlage der Deutschen im Krieg sowie die revolutionäre Nachkriegszeit erlebt er als Zusammenbruch der gefügten bürgerlichen Welt. Auch die galoppierende Inflation, in der Aktienspekulanten ihren Gewinn machen, während die Masse der Menschen in Hunger und Armut versinkt, ist ihm Menetekel einer aus den Fugen geratenen Welt. Seine Prägung verdankt der junge Mann einem preußisch-nationalen Elternhaus, einer liberal-bürgerlichen Bildung und seiner Offenheit gegenüber den progressiven Denkrichtungen der Weimarer Jahre. Als er 1933 sein juristisches Staatsexamen macht und die Machtergreifung der Nazis erlebt, wird für ihn klar, daß er in den Dienst dieses Staates nicht treten wird. 1938 verläßt er Deutschland und geht nach England in die Emigration.

Dort arbeitet er als Journalist. Seit 1954 lebt er in der Bundesrepublik Deutschland und wird als Publizist ein unnachsichtiger Kritiker restaurativer politischer Tendenzen in Nachkriegsdeutschland. Geschichte eines Deutschen umkreist die Eindrücke und Entscheidungen des eigenen Lebens als Beispiel für das, was Deutsche in diesen Jahrzehnten erlebten. Die Darstellung umfaßt drei große Abschnitte. In einem umfangreichen „Prolog“ wird die Zeit zwischen 1914-1933 resümiert und ihren Eindrücken nachgefragt. Ein zweiter Abschnitt ist mit „Die Revolution“ überschrieben. Hier werden die Ereignisse von Januar bis März 1933 dargestellt. Ein dritter Abschnitt unter dem Titel „Abschied“ reproduziert den persönlichen Entscheidungsprozeß des damals Sechsundzwanzigjährigen. Haffners Darstellung ist der Lebensbericht eines jungen Mannes, der zum entschiedenen Demokraten wird und eine entsprechende politische Haltung einnimmt. Der Autor ordnet seinen Bericht unter thematischen Gesichtspunkten und gibt so analytische Aufschlüsse über Ursachen und Wirkungen geschichtlicher Abläufe und Umbrüche, die z. T. von beklemmender Aktualität sind. Er fragt den Bedingungen nach, die die verhängnisvolle Entwicklung Deutschlands bewirkten und dem späteren Sieg des NS-Systems zugearbeitet haben. Dabei ist Haffners Geschichtsverständnis nicht an den Haupt- und Staatsaktionen der großen Politik und Diplomatie orientiert, sondern an der Erfahrung der einzelnen, die politischen Weichenstellungen und Entscheidungen tragen und deren Privatleben von ihnen bestimmt wird. An Hand des eigenen Verhaltens rekonstruiert er massenhaftes Verhalten. „Es ist alles wahr: Ich habe in die Ereignisse nicht eingegriffen, ich war nicht einmal ein besonders eingeweihter Beobachter, und niemand kann die Bedeutung meiner Person skeptischer einschätzen als ich selber. Und doch glaube ich, ... daß ich mit der zufälligen und privaten Geschichte meiner zufälligen und privaten Person ein wichtiges, unerzähltes Stück deutscher und europäischer Geschichte erzähle ...“ Indem Haffner das eigene Verhalten kritisch befragt, beschreibt er Verhaltensmuster bürgerlicher Eliten und stellt die „seelischen Bewegungen, Reaktionen und Verwandlungen“ dar, die in ihrer „Simultaneität und Massierung das Dritte Reich Hitlers erst möglich gemacht haben und seinen unsichtbaren Hintergrund bilden“. Dabei fällt wenig Aufmerksamkeit auf die sozialen Probleme und Verwerfungen, die am Ende der Weimarer Republik Massen betrafen. Seine Darstellung umkreist die Themenbereiche Nationalismus, Patriotismus, die Tugenden und Untugenden des deutschen Nationalcharakters in ihren Zusammenhängen zum Sieg Hitlers im Jahr 1933. Bei der analytischen Erörterung des Nationalcharakters der Deutschen gibt Haffner interessante Einblicke in massenpsychologische Vorgänge, in die Entstehung kollektiver Ängste, den daraus geborenen Glauben an Wunder und Propheten und die Abhängigkeit der Menschen von Identifikationsangeboten, deren manipulative Gewalt nicht durchschaut wird. Im zweiten Abschnitt, in dem er die Ereignisse zwischen Januar und März 1933 skizziert, stellt er den legalen Vorgang der NS-Machtergreifung dar und die einschüchternde Rolle des Terrors, der der Provokation des Reichstagsbrandes folgte. Dem Milieu seines Lebens entsprechend, gibt Haffner Einblicke in die Übernahme der bürgerlichen Institutionen durch die Nazis, zeigt, wie die bürgerlichen Eliten entweder wehrlos blieben oder schon lange mit den Nazis sympathisiert hatten. Er beschreibt das völlige Versagen der bürgerlichen Parteien, die Wehrlosigkeit auch der Arbeiterparteien und aller Demokraten, die an einen schnellen Abgang Hitlers glaubten. Er stellt dar, wie die Zivilgesellschaft langsam durch eine Terrorgesellschaft ersetzt wurde, vor der die Masse der Menschen kapitulierte. Er schildert die Übernahme der bürgerlichen Institutionen durch die SA an Hand der Vertreibung der Juden aus dem Reichskammergericht. Ein erzählerisches Kabinettstück bildet seine Schilderung über den Streit in einem Kreis junger Männer - zukünftiger Juristen und Staatsbeamte, die er als seine Freunde angesehen hatte -, der angesichts des Terrors in der Köpenicker Blutwoche endgültig auseinandergerät. Er skizziert an Hand massenhafter Verhaltensweisen die Rolle der Angst und Feigheit angesichts der Einschüchterung durch den Staatsterror, der Anpassungs- und Verdrängungsbereitschaft der Menschen, den Mangel an Zivilcourage, die Wehrlosigkeit der Demokraten, die der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten widerstandslos zugelassen haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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