Eine Rezension von Horst Wagner

Der Erbe des Markus Wolf

Werner Großmann: Bonn im Blick
Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2001, 320 S.

Nicht nur Bonn, sondern die ganze alte Bundesrepublik, ihren Regierungs-, Militär-, Abwehr- und Spionageapparat hatte Werner Großmann mehr als 35 Jahre seines Lebens ständig im Blick: als einer der ersten Mitarbeiter des 1953 gegründeten Außenpolitischen Nachrichtendienstes der DDR, als der für die BRD verantwortliche Abteilungsleiter in der HVA, als Stellvertreter von Markus Wolf und schließlich als dessen Nachfolger an der Spitze der Hauptverwaltung Aufklärung im MfS. Und so ist es nur verständlich, daß er sich, als ihn Mitarbeiter der Gegenseite nach der „Wende“ aufsuchten, um ihn zum Offenlegen seiner Quellen, also zum Verrat, zu bewegen, über deren Naivität und Unkenntnis wunderte. „Zugegeben, ich bin im Vorteil“, schreibt er über eines dieser Gespräche. „Durch unsere langjährigen Quellen im Verfassungsschutz kenne ich diese Institution länger als diese beiden Männer, die jetzt dort arbeiten.“ Verständlich deshalb auch, daß er unmittelbar nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, die er als eine Art „feindliche Übernahme“ beschreibt, wegen „geheimdienstlicher Agententätigkeit“ verhaftet wird.

Sicher werden die Memoiren des letzten DDR-Aufklärungschefs nicht mehr als eine solche Sensation empfunden wie die vor einigen Jahren unter dem etwas reißerischen Titel Spionagechef im kalten Krieg erschienenen Erinnerungen seines Vorgängers Markus Wolf. Aber sie lesen sich nicht weniger interessant, sind zum Teil sogar informationsreicher und offener und gehen auch zeitlich weiter als die Wolf-Memoiren. Fast wie ein Krimi beginnt das Buch: Wie sich der 23jährige Pädagogikstudent Großmann am 1. April 1952 in Dresden von seiner Frau verabschiedet, in Berlin von einem ZK-Mitarbeiter in ein Auto verfrachtet und in ein geheimes Gebäude in Niederschönhausen gebracht wird, dort einen neuen Ausweis mit anderem Namen erhält und von nun an in einer unter einer Tarnbezeichnung existierenden Schule nach allen Regeln der Konspiration leben muß. Der Spannungsbogen wird auch auf den folgenden Seiten gehalten: Wie Großmann als „Freischwimmerprüfung im Haifischbecken“ Einrichtungen der britischen Besatzungsmacht in Westberlin aufklären soll oder wie er einen IM aus der „Frontstadt“ durch Tegeler Forst und Stolper Heide in die DDR bringt. Interessant bleibt es auch, wenn später weniger abenteuerlich, aber dafür sachkundig, aus der Draufsicht des Leiters geschildert wird. Zum Beispiel wie „Gisela“ in die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes eingeschleust oder wie die gefährdete Quelle „Kid“ aus Mexiko über Havanna in die DDR gebracht wird; wie Klaus Kuron, ein Spitzenmann des Verfassungsschutzes, in den Osten überläuft und welche Folgen andererseits die Flucht Werner Stillers in den Westen hatte; wie Großmann überrascht ist, daß die HVA plötzlich einen Kundschafter im Bundeskanzleramt hat und wie er später mit Krupp-Manager Berthold Beitz als Verbindungsmann zu Helmut Schmidt die Chancen für eine Begnadigung Günter Guillaumes auslotet ...

Großmann, das wird im Buch deutlich, ist auch heute noch stolz darauf, daß sein Geheimdienst erfolgreicher arbeitete als seine westlichen Gegenspieler. Einer seiner früheren Gegner, Heribert Hellenbroich, nacheinander Chef des Verfassungsschutzes und des BND, war bei der Vorstellung von Bonn im Blick anwesend und meinte, Großmann habe es eben auch leichter gehabt. Der Geheimdienst einer Diktatur sei gegenüber dem auf rechtstaatliche Prinzipien Rücksicht nehmen müssenden und unter parlamentarischer Kontrolle stehenden Dienst einer Demokratie eben in Vorteil. Großmann sieht das ein bißchen anders. „Natürlich“, so schreibt er, „sind auch wir in der geheimdienstlichen Arbeit keine Edelmenschen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, nützen wir persönliche Dinge auch als Kompromat, also als Druckmittel. Doch wir erkennen, ... daß so eingegangene Verpflichtungen auf Dauer nicht funktionieren.“ Zwar hätten auch finanzielle Interessen und Mittel bei der Anwerbung eine Rolle gespielt. Die Mehrheit der westdeutschen IM habe aber aus politischen Motiven für die DDR gearbeitet, nicht zuletzt aus dem Wunsch, zur politischen Entspannung und zur Vertrauensbildung zwischen beiden deutschen Staaten beizutragen.

Großmann hebt natürlich auch die Professionalität, die politische und fachliche Bildung der hauptamtlichen HVA-Mitarbeiter hervor, ihr kameradschaftliches, vertrauensvolles Verhältnis untereinander wie zu ihren Quellen, das bis Oktober 1989 nur in den wenigsten Fällen, danach freilich auch durch Verrat mit schlimmen Folgen, enttäuscht wurde.

Ist der Autor ein Schönfärber? Eher wohl ein Gläubiger. Einer, der fast bis zuletzt an die Richtigkeit des Weges der DDR geglaubt hat. Freilich, es gibt auch kritische Bemerkungen in seinem Buch. Nicht nur zum autoritären, cholerischen Arbeitsstil Mielkes oder zum verlogenen Rummel Honeckers und seines Wirtschaftslenkers Mittag um den Einmegabit-Chip (zu dessen Entwicklung Großmanns Dienst wichtiges Know-how beschafft hatte). Kritisch vor allem sieht er die Selbstherrlichkeit und Starrheit, die zunehmende Konzeptions- und Sprachlosigkeit der Partei- und Staatsführung, was die Arbeit des Nachrichtendienstes schließlich sinnlos machte und das Vertrauen der Mitarbeiter, auch der westdeutschen, untergrub.

Reiches und zum Teil noch nicht bekanntes Faktenmaterial bietet Großmanns Buch auch zur Auflösung von MfS und HVA, über die „Aktion Rosenholz“, über seine Verteidigungsstrategie gegenüber den bundesdeutschen Gerichten und sein Bemühen um eine Amnestie für die Kundschafter. Man mag mit Großmanns Sicht auf die Dinge einverstanden sein oder nicht - eine interessante und aufschlußreiche Lektüre ist sein Buch allemal.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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