Wiedergelesen von Manfred Horlitz

Herbert Roch: Bootsfahrten

Gedichte, Essays und Erzählungen aus 70 Jahren.
Baltica-Verlag Oliver Bruhns, Flensburg 2000, 271 S.

Die hier vorgelegte Auswahl aus dem schriftstellerischen Werk Herbert Rochs (1907- 1978), der bis kurz vor seinem Tode in Berlin lebte, bietet endlich eine Möglichkeit, diesen hervorragenden Autor durch seine Lyrik, Erzählungen und Essays aufs neue zu entdecken.

Nach seiner letzten großen Arbeit, einer der Stadt Berlin gewidmeten Fontane-Biographie, erschienen 1962 unter dem Titel Fontane, Berlin und das 19. Jahrhundert im Gebr. Weiss Verlag, Berlin-Schöneberg, wurde er kaum noch in einschlägigen Dichterbiographien u. a. Nachschlagewerken erwähnt. (Lediglich ein Nachdruck der Fontane-Biographie erschien 1985 im Droste Verlag, Düsseldorf.) Er teilt damit das Schicksal verschiedener deutscher Schriftsteller, die 1933 in die „innere Emigration“ gingen, sich aber „die Stimme der Menschlichkeit hinter einer Mauer der Verbote und des Totschweigens bewahrten“ (S. 8). Seine 1940 erschienenen Essays über Grimmelshausen, Swift und Gogol mit dem Buchtitel Richter ihrer Zeit waren (nach Arnold Bauer) „ein Geheimtipp für jene, die sich ihr kritisches Denken bewahrten und für die Stimme eines freien Gewissens die innere Antenne hatten“ (S. 7). - Bei einer weiteren Auflage des Auswahlbandes wäre der Abdruck eines Essays aus der genannten Ausgabe wünschenswert.

In den ersten Nachkriegsjahren erlebten einige seiner Bücher noch eine bzw. zwei Auflagen, dann wurde es still um Herbert Roch. Eine Ursache mag auch daran liegen, daß jene Verlage, die ihn nach 1945 betreut hatten, sich auf dem neuen Buchmarkt nicht lange behaupten konnten.

Für Herbert Roch war das Studium fremder Völker und Naturlandschaften - zum besseren Verständnis der Heimat - von Jugend an Passion. Und so spiegeln seine Erlebnisse in Kalifornien und auf Hawaii (1922-1927) sich als eine Art „Selbstbefreiung“ (S. 14) in frühen Gedichten und Erzählungen wider. Diese Lebenseinstellung des aus der Oberlausitzer Provinz stammenden jungen Autors erlebt der Leser bereits durch den ersten Text des Auswahlbandes, San José Avenue, Fragment einer erstmalig veröffentlichten unvollendeten Autobiographie (S. 13-16). Diese bildet mit einer den Band abschließenden Natur- und Landschaftsschilderung - Ergebnis einer Finnlandreise - (S. 267 ff.) den Rahmen für die aus verschiedenen Schaffensperioden ausgewählten Gedichte, Erzählungen und Essays. Insofern entspricht diese Buchgestaltung auch dem künstlerischen Schaffen des Autors, aus jeder provinziellen Enge hinauszutreten und sich den Blick für die Menschen jenseits heimatlicher Gefilde zu bewahren.

Die Gedichte (S. 19 ff.), vollständig aus seiner 1954 erschienenen Lyrik-Sammlung über- nommen, beeindrucken durch schlichte, feinfühlige Sprache und einprägsame Bildhaftigkeit. Von einem tiefen Empfinden zeugen vor allem jene Verse, in denen das lyrische Ich sich zu einer Harmonie zwischen Mensch und Natur bekennt, wie Morgen an der Adria (S. 43), Der Christus von Kolocep (S. 43), Pariser Impressionen (S. 46) u. a. In den Anti-Kriegs-Gedichten spürt man die Trauer um zahllose Opfer, wobei das Inferno schon früh vorausgesehen wird:

„Bei Kriegsausbruch
September 1939

Nie mehr der Früchte schwellende Pracht,
reich beladene Äste des Herbstes;
nie mehr der Traube Duft und des Apfels Glanz;
nie mehr den Wind und die Wellen,
nie mehr die Berge, den sommerdurchleuchteten Fluß,
die nebligen Wälder und duftigen Gärten:
dies alles für viele nie mehr.

Nur Sterben unter zerfetzten Bäumen,
letzte Atemnot auf zerrissener Scholle.
Mondlicht. Kreuze und Gräber.“ (S. 53)

In den ausgewählten Erzählungen Die Lawine (S. 83 ff.), Biographie einer schüchternen Liebe (S. 114 ff.) und Der Muche Franz (S. 127 ff.) begegnen uns psychologisch sehr differenziert gezeichnete Figuren, die, auf der Suche nach einem unkonventionellen, natürlichen Leben, unverschuldet in Konflikt geraten, der für sie teilweise nur tragisch lösbar ist.

Roch erweist sich darin als realistischer Erzähler, indem seine Protagonisten nicht losgelöst vom sozial-historischen Umfeld agieren. Ihm geht es um Selbstverwirklichung, um den Versuch des Individuums, sein Schicksal selbst bestimmen zu können.

Aus der 1948 bei Ullstein u. Kindler, Berlin/München, erschienenen Essaysammlung Bootsfahrten legt der Baltica-Verlag fünf Arbeiten vor und wählt nicht von ungefähr diesen Buchtitel für den gesamten Auswahlband; hatte doch Herbert Roch unter diesem Thema nicht nur ein Essay veröffentlicht, sondern sah unter dieser Metapher das geistige Zentrum seiner essayistischen Bemühungen.

„Was den Titel ,Bootsfahrten‘ betrifft, so habe ich ihn gewählt, weil ich das Essayschreiben als eine Art geistigen Bootfahrens auffasse. Gern hätte ich zur Abrundung des Ganzen noch andere Arbeiten und Tagebuchaufzeichnungen in den Band aufgenommen; aber das Bündel mit diesen Manuskripten liegt in einem Keller jenseits der Neiße. Ich hatte es vor der Gestapo dorthin in Sicherheit gebracht.

Ich freue mich, daß die Fernsteuerung der Literatur nun endlich aufgehoben ist und daß wir wieder auf Wassern fahren können, die uns solange versperrt waren.“ (S. 140)

Eine „Bootsfahrt“, so Roch in dem gleichnamigen Essay, sei für ihn eine „Befreiung und Erlösung von quälenden Gedanken“, [...] „erquickend und belebend für Geist und Körper“ (S. 141 f.). Alle Essays kreisen um das Bemühen, sich mit dem Leser unter dem Eindruck erlebter Zeitgeschichte Klarheit über wesentliche Grundfragen des Lebens zu verschaffen. Die Arbeiten zeugen von einer selbstkritischen Position, einer tiefgründigen, vielseitigen Beobachtung der Wirklichkeit und nicht zuletzt von fundierten geschichtsphilosophischen Erkenntnissen. Spätestens bei der Lektüre der Essays Brief über die Freiheit (S. 163 ff.), Gedanken über die Mode (S. 175 ff.) und Über das Vergessen (S. 188 ff.) werden einem die bemerkenswert zeitnahen Prämissen des Verfassers bewußt. Wer wird nicht berührt, wenn es bei Roch heißt:
„Man kann ... Angst bekommen vor dem Einfluß, den die Mode auf unser Leben gewonnen hat, ... sie ist eine taube Blüte auf dem Baume des Fortschritts ... Sie beraubt den Menschen, der sich völlig in ihre Gewalt begibt, aller geistigen Selbständigkeit und schiebt ihm bei moralischen Rückenschmerzen ein weiches Trostkissen unter das Kreuz.“ (S. 176)

Und zur Freiheit bemerkt der Autor unter den Erfahrungen der nationalen Katastrophe 1933-1945, daß sich nur auf der Gedanken- und Gewissensfreiheit - „sie ist die Luft, von der wir leben“ - staatsbürgerliche Freiheiten gründen und daß nur „jene Freiheit, die sich selber Grenzen zieht und setzt, einen wirklichen Kulturwert besitzt“ (S. 167).

Der vierte und letzte Abschnitt des Bandes bietet eine Auswahl von Schriftsteller-Porträts, die Roch 1947 unter dem Titel Deutsche Schriftsteller als Richter ihrer Zeit im Berliner Horizont-Verlag in Buchform herausgegeben hatte. Darin empfiehlt er seinen Lesern, sich „mit den Werken jener Männer zu beschäftigen, die den Kampf um Freiheit und Menschlichkeit vor uns gekämpft haben, damit Klarheit in unser Denken komme“. (S. 196) Das Schicksal von Mühsam, Ossietzky und Tucholsky muß ihn besonders tief erschüttert haben, lag doch deren gewaltsamer Tod erst wenige Jahre zurück.

„Diese Männer sind Deutschlands Schande und zugleich seine Ehre. Sie sind die Richter eines tiefen geistigen Verfalls und die Künder seines schwer geschädigten, aber dennoch ungebrochenen Willens zur Humanität. Ihr Leben war dem Kampf um Wahrheit, Recht und Freiheit gewidmet. Wo die Totengräber der Kultur und der Zivilisation in Uniform oder Frack am Werke waren, erhoben sie ihre Stimme. Sie warnten. Sie prangerten an. Sie entlarvten, ... sie verkauften sich nicht und ließen sich nicht bestechen; sie blieben bei ihrer Wahrheit und starben dafür.“ (S. 241 f.)

In diesen Aufsätzen, die fundierte Charakterporträts humanistischer Schriftsteller vom 18. bis 20. Jh. bieten, erweist sich der Autor als ein Kenner deutscher u n d europäischer Literaturgeschichte.

1947 sieht er diese Arbeiten als eine „Aufgabe und Verpflichtung“ seiner Generation und als Beitrag für eine lebensfähige Demokratie in Deutschland. (S. 261)

Abschließend sei kritisch angemerkt, daß bei einer weiteren Auflage, die sehr zu begrüßen wäre, das Verzeichnis der Buchveröffentlichungen Herbert Rochs vervollständigt werden sollte. Auf seine Übersetzungen englischer und amerikanischer Autoren wird zwar im Geleitwort verwiesen, aber auch diese bedürfen einer bibliographischen Anzeige. Ergänzend sei vermerkt, daß Roch dem PEN in Berlin angehörte.

Diese geringfügigen Einwände mindern nicht das außerordentliche Verdienst des Baltica-Verlages, diesen deutschen Autor der heutigen Leserwelt wieder nahegebracht zu haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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