Wiedergelesen von Eberhard Fromm

Günter Grass: Katz und Maus

Neuwied 1961
Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger (11)

Mit Günter Grass endet die Reihe der deutschsprachigen Nobelpreisträger des 20. Jahrhunderts. Was das 21. Jahrhundert zu bieten haben wird, liegt noch im ungewissen. Ein nächster, ein neuer Preisträger deutscher Sprache scheint jedenfalls gegenwärtig nicht in Sicht. Vielleicht wird es Grass so ergehen, wie manch anderem vor ihm: Er kann den Staffelstab nicht weitergeben.

Denn Günter Grass gehört zu den „einsamen“ deutschsprachigen Preisträgern. Zwar hat er einige seiner Vorgänger wie Heinrich Böll, Nelly Sachs und Elias Canetti erlebt, aber als er den Nobelpreis erhielt, waren sie alle bereits gestorben. Vor ihm hat es immer wieder die - zumindest theoretische, meist aber auch praktizierte - Möglichkeit gegeben, daß sich wenigstens zwei deutschsprachige Literaturnobelpreisträger treffen konnten, wie das bei Gerhart Hauptmann und Thomas Mann oder auch bei Thomas Mann und Hermann Hesse der Fall war. Grass war allein, als er die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises erhielt. So konnte er sich denn auch nur in Gedanken mit seinen Vorgängern freuen: „Ich habe mich spontan gefragt, was wohl der letzte deutsche Preisträger, Heinrich Böll, sagen würde. Ich habe das Gefühl, er wäre damit einverstanden gewesen. Dieser Preis ist eine große Genugtuung für mich.“

Wenn man bedenkt, daß von den bisherigen elf deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgern nur sieben bei ihrer Ehrung die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und von diesen sieben noch zwei Wissenschaftler waren, dann ist die „Ausbeute“ an Literaturnobelpreisen im 20. Jahrhundert recht bescheiden. Und der Stolz des Günter Grass, einer von diesen fünf Schriftstellern zu sein, ist nur zu verständlich.

Mit Günter Grass wurde eine Persönlichkeit geehrt, die eine Spezies repräsentiert, die in Deutschland über das ganze 20. Jahrhundert immer wieder umstritten war: ein typischer deutscher Intellektueller. Wie eng oder weit man auch diesen Begriff definiert, Grass paßt immer hinein. Er war stets eine Persönlichkeit, die sich öffentlich einmischte, die nicht allein auf ihrem ureigensten Gebiet, der Literatur, Herausragendes leistete, sondern die sich im politischen Leben ebenso engagierte wie in der geistigen Auseinandersetzung.

Als die Schwedische Akademie am 30. September 1999 mitteilte, daß Günter Grass den Literaturnobelpreis erhalten werde, wurde in der Begründung hervorgehoben, daß er „in munter schwarzen Farben das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet“ habe.

Man ehre in Grass einen Mann, der sich als Spätaufklärer bekannt habe „in einer Zeit, die der Vernunft müde geworden ist“.

Ehrungen sind dem am 16. Oktober 1927 in Danzig geborenen Schriftsteller nicht fremd. Seit er 1958 nach der Lesung aus seinem Manuskript Die Blechtrommel den Preis der Gruppe 47 erhielt und er 1961 in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen wurde, markieren Preise, Ehrendoktorwürde und andere Auszeichnungen seinen Lebensweg. Die Palette reicht vom Georg-Büchner-Preis (1965) und Fontane-Preis (1968) bis zum Großen Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1994), dem dänischen Sonning-Preis (1996) und dem Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1996). Er ist u. a. Ehrendoktor der Harvard Universität und der Universitäten in Poznan und Gdansk. Seine Geburtsstadt Danzig übertrug ihm 1993 die Ehrenbürgerschaft. Der so intensiv Geehrte hat inzwischen selbst Preise gestiftet, so den Alfred-Döblin-Preis und den Chodowiecki-Preis.

Mit den vielfältigen Ehrungen im In- und Ausland lange vor dem Nobelpreis wurde sein künstlerisches Schaffen gewürdigt: seine Gedichte und Zeichnungen, seine Theaterstücke und natürlich seine Prosa. Der gelernte Steinmetz Grass, der von 1948 bis 1952 an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert hat, ist so tatsächlich ein Multitalent. Doch im öffentlichen Bewußtsein sind es natürlich vor allem seine großen Romane und Erzählungen, mit denen er sich einen Namen machte. Neben Die Blechtrommel, die 1959 erschien, sind hier insbesondere die Erzählungen Katz und Maus, Das Treffen in Telgte und die Sammlung von Erzählungen unter dem Titel Mein Jahrhundert sowie die Romane Hundejahre, Der Butt, Die Rättin und Ein weites Feld zu nennen.

So kontinuierlich das künstlerische Schaffen und die damit verbundenen Ehrungen den Entwicklungsweg von Günter Grass kennzeichnen, so kontinuierlich ist auch der Streit um ihn. Von der Weigerung des Bremer Senats 1959, ihm den Bremer Literaturpreis zuzuerkennen, bis hin zu jüngsten Polemiken um seine neuen Arbeiten wird immer wieder deutlich, daß hier ein Künstler mit seinen Werken nicht einfach „unterhalten“, sondern immer auch provozieren will - zum Nachdenken, zum Disput, zum Widerspruch.

Sicher hängen die Auseinandersetzungen um und mit Grass auch mit seinem gesellschaftlichen Engagement zusammen. Seine Unterstützung für den Wahlkampf der SPD, seine Reisen mit Willy Brandt, sein öffentliches Auftreten zu brisanten Problemen der Entwicklung in der Bundesrepublik und in der Welt haben ihn zu einem unbequemen Zeitgenossen werden lassen, der sich einmischt, wenn er es für notwendig hält. Die Titel der Sammlungen seiner politischen Reden und Aufsätze wie „Briefe über die Grenze“, Denkzettel“, „Widerstand lernen“ oder „Gegen die verstreichende Zeit“ signalisieren das Programm: für eine bürgernahe Demokratie, gegen jede Form von Unterdrückung und Reaktion.

Es ist schon erstaunlich, wie sich gerade in dieser Haltung der erste und der letzte deutschsprachige Literaturnobelpreisträger des 20. Jahrhunderts gleichen. Auch Theodor Mommsen war kein stiller Stubengelehrter, sondern ein engagierter Gegner der Politik eines Bismarck, ein Streiter gegen den Antisemitismus seiner Zeit und gegen alle Angriffe auf die geistige Freiheit.

Und so gibt denn doch über ein Jahrhundert hinweg der eine kämpferische Intellektuelle seinem Nachfolger den Staffelstab in die Hand, der zu wissenschaftlicher und literarischer Leistung, aber eben auch zu aufklärerischem Engagement verpflichtet.

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Die Erzählung Katz und Maus, die 1961 erschien, stellt ein Stück jener „großen Danzig-Saga“ (Hans Magnus Enzensberger) dar, die mit Die Blechtrommel eröffnet wurde. Es ist die Geschichte des Großen Mahlke mit dem überdimensionalen Adamsapfel, die hier erzählt wird. Man erfährt von ihm all das, was sein Beinahe-Freund Pilenz von ihm weiß. Also: was ein Pennäler so vom anderen weiß. Da ist die tiefe, fast fanatische Mariagläubigkeit, die der langjährige Ministrant Pilenz mehrfach in der Kirche beobachten kann. Da ist der Hang zum Perfektionismus, stets der Beste zu sein, wo es darum geht, einem Publikum etwas zu zeigen. Da ist der Berufswunsch, ein guter Clown zu werden. Und da ist natürlich der riesige Adamsapfel, dessen hüpfende Bewegungen sogar einmal eine Katze dazu verleiteten, das Ding für eine Maus zu halten.

Mahlke war etwa vierzehn Jahre, als der Krieg begann. Aus dem unfertigen Nichtschwimmer wurde bald er beste Schwimmer und Taucher, der mit einer kleinen Gruppe seiner Mitschüler viel Zeit auf einem halbversunkenen Minensuchboot verbrachte. So wurde er zum Großen Mahlke, den alle nur anstaunen konnten, sei es beim langen Tauchen oder bei den ersten sexuellen Spielereien.

Doch bei aller Nähe bleibt er den anderen in vielen Dingen ein Rätsel. Sein Inneres bleibt verschlossen. Und die Erzählweise des Buches vermeidet es geradezu, Einblicke in das innere Leben dieses Gymnasiasten, des späteren Arbeitsdienstlers und Panzersoldaten zu erhalten: keine eigenen Gedanken, keine Handlungsmotive, nur die äußeren Handlungen. Nur hin und wieder, bruchstückhaft, werden kleinste Hinweise gegeben: „Ich lese neuerdings ziemlich viel Kierkegaard“ und gleich danach: „Natürlich glaube ich nicht an Gott.“ Und dazu die Sicht des Pilenz, etwa wenn er erzählt: „Mahlke konnte nicht spotten. Er versuchte es manchmal. Aber alles, was er tat, anfaßte, aussprach, wurde ernst, bedeutsam und monumental ...“

Und doch - oder vielleicht auch gerade deshalb - entsteht mit der Figur des Großen Mahlke „eine der ergreifendsten und glaubhaftesten Jungen-Gestalten in der modernen Dichtung“ (Walter Jens). Vielleicht ja auch deshalb, weil man als Leser herausgefordert, ja geradezu provoziert wird nachzudenken, warum sich der Große Mahlke so verhält: Warum stiehlt er einem U-Boot-Kommandanten, der als ehemaliger Schüler des Gymnasiums vor den Gymnasiasten spricht, das Ritterkreuz, trägt es heimlich, gibt es dann offen zurück und fliegt dafür von der Schule? Warum wird er zu einer auffälligen Figur im Arbeitsdienst? Was treibt den Panzersoldaten und Unteroffizier Mahlke zu Taten, die ihn selbst zum Ritterkreuzträger machen? Warum ist er so versessen darauf, in seinem alten Gymnasium aufzutreten, daß er, als das abgelehnt wird, nicht mehr zur Front zurückkehrt und am Leben verzweifelt? Was wollte er so unbedingt der neuen Generation von Gymnasiasten am Ende des Krieges erzählen?

Grass verläßt in dieser Erzählung nie die Position und Sicht des Pilenz: „Ich aber, der ich Deine Maus einer und allen Katzen in den Blick brachte, muß nun schreiben.“ Diese betont subjektive Sicht des Erzählers macht die Geschichte so dicht, man ist direkt dabei, mittendrin, ohne Abstand. Sie läßt aber auch die Zeitbezogenheit so intensiv werden - eben die Sicht eines Gymnasiasten in Danzig in den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges -, daß spätere Generationen von Lesern viele Hilfen benötigen werden, um manches zu verstehen. Katz und Maus braucht viele Fußnoten der Erklärung, wenn diese Novelle Mitte des 21. Jahrhunderts verlegt werden wird.

Aber auch ohne solche Erklärungen von Details bleibt der tiefe menschliche Gehalt für immer deutlich. So wie einst die Katze des Platzwarts dem Jungen an den aufreizenden Adamsapfel sprang, aber doch nur ein paar harmlose Kratzer hinterließ, so sprang das Leben dem Großen Mahlke an die Gurgel, doch da waren es keine kleinen Kratzer mehr, denn er wurde gewürgt und wohl auch überwältigt. Denn wenn auch Pilenz noch nach dem Krieg in jedem Zirkus und bei Treffen von Ritterkreuzträgern nach dem Großen Mahlke suchte, er blieb wohl unter Deck jenes halbversenkten Minensuchbootes, wohin er sich flüchtete, als er nicht mehr an die Front zurück wollte. Denn, so schließt das Buch, „Du wolltest nicht auftauchen“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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