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Michael Fisch

Reisen in der Literatur*

Reise oder Fahrt

Eine Werbungsreise, eine Abenteuerfahrt, eine Bewährungsfahrt, eine Pilgerreise, eine Fahrt ins Exil oder die Rückreise in die Heimat - das Motiv der Reise ist im Gilgamesch-Epos ebenso vorhanden wie in den Epen Homers, in den germanischen Heldenliedern ebenso präsent wie in den höfischen Epen, in den französischen Schriften wie in den deutschen. In den Sagen des Erec, des Yvain, Lancelot oder des Chretien de Troyes sind die Helden ebenso unterwegs wie in den Epen des Hartmann von Aue und des Gottfried von Straßburg. Es wird gekämpft, gesiegt und gereist, vor allem wird versucht, den Zwiespalt von Ichsucht und Leidensfähigkeit in sich selbst zu heilen. Hans-Jürgen Heinrichs sagt es in seinem Reisebuch Das Feuerland-Projekt so:

    „Die Kindheit, das Heilige, die inneren Bilder, die jeder Reisende mit sich
    herumträgt, die Träume und die Exotismen, die ihn beherrschen, die
    Orte, von denen er nicht weiß, ob er selbst sie erfunden hat oder das
    Leben sie für ihn bereithält: von diesen einzigartigen und sich
    verknäuelnden Phänomenen, Sensationen und Beziehungen wird im
    folgenden die Rede sein.“

In Dantes La Divina Commedia wird die Reise spiritualisiert; die Reise wird zum Erlösungsdrama: Sünde und Heil werden in den Bereichen des Infernos und des Paradisos durchreist wie Raumregionen, anschaulich und bedeutungsvoll verteilt auf oben und unten. Der Dichter könnte auch meinen, daß die Reise nach innen geht in die eigene Läuterung oder nach außen in die Verstrickung mit den Verlockungen und Gefahren der Welt. Gerade die Möglichkeit, Erfahrungen mit der realen Welt und Erfahrungen mit der Seele auf der Suche nach ihrem Heil zu vermischen, macht das Motiv der Reise über das Mittelalter hinaus erfolgreich. Die Reise ähnelt einer Pilgerfahrt durch die drei jenseitigen Reiche: Hölle, Fegefeuer und Paradies. Dieses Mysterium ist der Ausweg aus dem finsteren Walde, in dem der Dichter zu Beginn seiner Vision sich verirrt sieht und wo drei reißende Tiere, Panther, Löwe und Wölfin, ihm den Aufstieg zur lichten Höhe verwehren. Ab hier beginnt die läuternde Reise:

    „Der Tag ging nieder und im Abendscheine fand alles, was sich plagt
    auf Erden, Rast von Tages Sorg und Müh. Nur ich, der eine, ich ging
    ans Werk und nahm auf mich die Last des Weges wie des Leids: Das
    soll nun zeigen mein Geist, der alles ohne Fehl gefaßt.“

Den Weg zur Rettung weist ihm Vergil, sein Meister und Vorbild. Wegweisend und wegbahnend geleitet er seinen Schützling zunächst durch die Kreise der Hölle bis zum Grund, dem Sitz des Höllenfürsten, dann durch den Mittelpunkt der Erde zur anderen Halbkugel und den dort aufragenden Berg der Buße. Auf dessen Gipfel, im Garten Eden, entläßt er den durch Miterleben von Schuld und Sühne Freigewordenen.

In der Divina Commedia (1308-1321), in John Bunyans The Pilgrim's Progress (1684) und in Samuel Taylor Coleridges Rime of the Ancient Mariner (1796) erfährt das Thema der Reise in den Schilderungen, in denen die Reiseerlebnisse nicht nur zur Erweiterung des begrenzten Erfahrungshorizonts, sondern auch zur Selbst- oder Welterkenntnis führen, seine große Ausdehnung. In diesen Darstellungen wird der Bogen vom Vertrauten zum Fremden geschlagen und führt das Ich in einer Folge von Reflexionen zu einer Stufe der gelassenen und besonnenen Weltsicht. Die Figur befindet sich auf einer Lebensfahrt, entwickelt eine vorbildliche Haltung zum Mitmenschen, erkennt historische Entwicklungen, gewinnt Einblick in das Weltgeschehen und erkennt sein Verhältnis zum Göttlichen. Daß ein Autor seine eigenen Erfahrungen zur Grundlage einer sinnbildlichen Gestaltung der menschlichen Entwicklungsfähigkeit machen kann, belegten beispielsweise Lawrence Sterne mit seiner Sentimental Journey through France and Italy (1768), 1 aber auch die Reiseberichte durch Italien des Michel de Montaigne Voyage en Italie (1580), C. Mercier Dupaty Lettre sur L'Italie (1785) und Johann Wolfgang von Goethes Italienische Reise (1786). Aus dessen naturwissenschaftlichen Schriften stammt folgendes nicht nur in dieser Hinsicht treffende Zitat, entnommen dem Kapitel Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort (1798):

    „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt
    kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.
    Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein
    neues Organ in uns auf.“

Im 18. Jahrhundert erreicht die Besitznahme der außereuropäischen Welt, die Welle der Kolonialisierung, ihren ersten Höhepunkt. Fremde Natur und fremde Zivilisation werden genauer kennengelernt. Sie laden dazu ein, reale Unterschiede festzustellen, den Vergleich als Wertung des Eigenen gegenüber dem Fremden zu vollziehen. Um den Vergleich glaubhaft fingieren zu können, muß „das Leben hier“ mit „dem Leben dort“ vergleichbar sein; ein Lebensschicksal muß erfunden werden, das zu einem verbindlichen, nicht nur besuchsweisen Leben an einem anderen Ort zwingt. Die Reiseunterbrechung wird zum erfolgreichen Schema, vor allem der Schiffbruch. Dieser muß dann durch eine ebenso schicksalhafte Wiederaufnahme des Schiffbrüchigen durch ein Schiff ergänzt werden, damit er heimkehrt, um berichten und vergleichen zu können.

Der Robinson Crusoe des Daniel Defoe und Gullivers Reisen von Jonathan Swift sind im Abstand von nur wenigen Jahren erschienen. Daniel Defoes Bücher The life and strange surprizing andventures of Robinson Crusoe of York, mariner (1719) und Historical acconut of the voyages and adventures of Sir Walter Raleigh (1720) lassen erkennen, wie nahe Historie und Erzählung beieinander liegen können. Mit dem Robinson hat Defoe unversehens einen archetypischen Charakter geschaffen, dessen Erlebnisse in mythische Dimensionen reichen, so daß das Buch nicht nur in Europa ein augenblicklicher Erfolg wird und in Form der Robinsonaden eine Fülle von Nachahmungen auslöste, sondern auch in die Weltliteratur eingeht.2

Johanthan Swifts Roman Gulliver's Travel (1729) gilt sofort nach Erscheinen als literarische Sensation, und das nicht nur in England. Es wird mit Entzückung und Verblüffung gelesen. Swift gelingt es, die damals neue realistische Erzählweise mit einer spielerischen Phantastik im Dienste der Satire zu verbinden, die vor allem darauf abzielt, den Menschen als ein „bestenfalls der Vernunft fähiges Lebewesen“ erscheinen zu lassen.

Die europäische Romantik bereichert das Thema Reise um die Wanderung. Zahlreiche Autoren, unter anderem Wilhelm Wackenroder, Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Joseph Eichendorff, William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, Alphonse de Chateaubriand, Victor Hugo, Théophile Gautier und Henri Beyle Stendhal, übernehmen die Deutung der Reise aus der Perspektive der Lebensfahrt und füllen sie mit einem neuen, eigenen Gehalt.

Das Wandern ermöglicht dem Reisenden die Begegnung mit den Ausschnitten der Welt und den Einblick in die Bedingungen des Lebens. Die Wanderung ist angefüllt mit Eindrücken, die das eigene Land in seiner besonderen Schönheit hervortreten lassen.

Begegnungen mit der Umwelt, der Natur und der Vergangenheit leiten zu Reflexionen an, die das Weltbild der Romantiker näher bestimmen. Der romantische Wanderer sieht in mittelalterlichen Bauten das Stilideal der Synthese gemischter Vorstellungen verwirklicht. Bezeichnenderweise huldigt der romantische Autor und Wanderer einer Volksdichtung aus unverbildeten Zeiten, wie dem Volkslied, dem Volksbuch und der Sage. Der ritterliche Geist und die Tradition der Kirche, die Überlieferung Roms und das christliche Mittelalter stehen plötzlich lebhaft vor Augen. Aus dem erfahrenen Todeserlebnis hilft dem Romantiker nur die Errettung im christlichen Glauben. Die Ruine regt zu Gedanken über das Wesen des Malerischen an: Die von der Zivilisation unberührte Natur wird zur Märchenwelt, der romantische Garten nimmt die Welt des Exotischen auf, wie es Ludwig Tieck in seinem Buch Franz Sternbalds Wanderungen (1798) einlöst. Die Wanderung dient darüber hinaus der Erkundung des Unbewußten in seinen symbolischen Darstellungen der Unendlichkeit, des Elementarischen und des Universalismus, wie es Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) darstellt.

    „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.
    Und was man glaubt, es sei geschehn,
    kann man von weitem erst kommen sehn.“

Die Lebensfahrten in die geheimnisvolle Bergwelt oder in die Schächte der Bergwerke, wie Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann es umschrieben, enthüllen die Gebrechlichkeit der menschlichen Existenz.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erobern Dampfschiff und Eisenbahn die Welt. Reisen wird bequemer. Wer auf eigene Reiseplanung und Reisefreiheit verzichtet, kann sogar luxuriös reisen. Was bisher, von den wenigen Reisemutigen abgesehen, Gegenstand von Träumen, Wünschen und Sehnsüchten war, wird erreichbar. Reisen ist nun nicht mehr allein phantastisch, sondern tatsächlich nachprüfbar. Die Schriftsteller der Reiseliteratur müssen ab hier ihr Thema ändern, wollen sie noch Leser für ihre Reiseberichte finden. Heinrich Heines Harzreise (1826), Gustave Flauberts Reise in die Pyrenäen (1840), nach Italien (1845) und Ägypten (1849/50) und schließlich Fanny Mendelssohns Italienisches Tagebuch (1839/49) deuten die technischen Neuerungen bereits an.

Gustav René Hocke sagt es in seiner Sammlung Europäische Tagebücher so:

    „Das Reisetagebuch, meist nur Tag um Tag datierter
    Reisebericht, sofern nicht ,echte‘, das heißt subjektiv-
    diaristische Elemente darin zu finden sind.“

Für exotische, in der eigenen Welt unmögliche Erlebnisse gibt die nun erfahrbare Fremde keinen Hintergrund mehr ab. Die märchenhaften, sagenhaften, utopischen Horizonte der Reise verblassen. Wo immer man hinkommt, Europa wartet schon. Selbst die eben noch erfundenen europäischen Verkehrsmittel werden in der übrigen Welt begierig nachgebaut.

Der Schriftsteller erhält Konkurrenz. Durch die Erfindung der Fotografie wird die Ferne konkret, anschaulich. Damit ändert die Reise als Motiv und Thema der Literatur ihre Funktion. Was von einer Reise als Text mitgebracht wird oder in einem Reiserahmen fingiert wird, muß in seinem Faktenbestand nachprüfbar sein und diesen Faktenbestand zugleich übersteigen.3 Das Fotografierte will der Leser nicht in Worten vermittelt bekommen, denn er kann es schließlich abgelichtet betrachten. Die reinen Beschreibungen der fernen Fremde haben hier ihr Ende, es beginnt die Analyse und die Deutung.

Wo die Reise selbst, die Bewegung vom Vertrauten ins Unvertraute, Thema bleibt, wird sie philosophisch überhöht. Hermann Graf Keyserling schreibt im Rückblick auf seine Weltreise (1911/12) sein Reisetagebuch eines Philosophen. Was der Reisende als Philosoph erfährt, ist eine Selbstverwirklichung im Durchwandern der Welt. Die Menschen in der Ferne, die anderen, werden mit ihren Traditionen, ihren sozialen Organisationsformen, ihren Lebensformen und ihrem Selbstverständnis Gegenstand wissenschaftlicher Analyse und Reflexion. Hier etabliert sich die Ethnologie als Wissenschaft.

Die Reiseliteratur hingegen, die weder romanhaft erfindet noch wissenschaftlich reflektiert, verändert ihre Funktion. Der Autor zeigt seinen Lesern, wie weit fort er gewesen ist. Er versucht, das Ferne fremd zu halten und damit die Distanz zum Eigenen zu sichern. Damit weist er nach, auf welches Wagnis er sich reisend einläßt, und fordert warnend zur Wiederholung dieses Abenteuers auf. Heute ist Reisen auch an die entlegensten Orte der Welt zu einem Ferienvergnügen geworden. Das Erlebnis tropischer Exotik verblaßt zur Reise-Routine.

Die Sprache der Reiseberichte der zwanziger und dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts stellt sich um. Das ferne Fremde wird hiesig und alltäglich gemacht. Tropische Landschaft wird in den Worten, die für europäische Landschaftsbeschreibungen üblich sind, den Lesern nahegebracht und erschlossen. Der Autor geht jetzt davon aus, daß er nicht mehr vor der Fremde warnen muß, sondern sie als bekannt voraussetzen kann. Mit dem touristischen Blick bildet sich eine touristische Sprache heraus. Das Fremde wird sprachlich domestiziert.

Bildung oder Aufklärung

Die Frage, ob man reisen soll, beantwortet jede Epoche anders. Daß diese Frage überhaupt gestellt wird, zeigt an, daß das Reisen sich nicht von selbst versteht, sondern einer Legitimation bedarf. Aus diesem guten Grund wird allenthalben nach dem Nutzen des Reisens gefragt, und eine immer wieder betont vornehm gegebene Antwort lautet: Reisen bildet.

Bildung steht als vornehmer Zweck der Reise schon bei Jean-Jacques Rousseau fest. Er erkennt in der Bildung, die der Reisende während der Fahrt oder Wanderung erfährt, den Nutzen der Reise. Die Erfindung des Tourismus durch das ausgehende 19. Jahrhundert sieht den Nutzen der Reise nicht mehr in der Reisebewegung, sondern in der Ankunft am Urlaubsort.

Theodor Fontane findet sein Reiseglück im Beschluß des Reiseaufenthaltes während der Sommerfrische an einem Urlaubsort und dem Verweilen an diesem Urlaubsziel. Dieses Mißverhältnis zwischen erhöhter Mobilität und reinem Stillstand nimmt bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu.

Besteht die außerordentliche Bedeutung des Reisens zu Beginn der Aufklärung darin, daß sie trotz kalkulierter Ungewißheiten eine interessantere Bildung verspricht als die bekannten Schulweisheiten, so wird die Reise erst recht in der Epoche des bürgerlichen Selbstbewußtseins zum Bildungsideal. Das Lesen, klagt Rousseau, hat nicht etwa die Unbildung beseitigt, sondern „anmaßende Dummköpfe“ erzeugt. Daher gehe man besser auf Reisen, um die fremde Welt selbst zu buchstabieren.

In seinem Erziehungsroman Emile (1762) schreibt er: „Über so vielen Büchern vergessen wir das Buch der Welt.“ Während sich die Lektüre mit dem toten Bücherwissen begnügen muß, stößt die Reise zum Buch der Welt vor. Der Philosoph Hans Blumenberg sagt es in seinem schon klassischen Buch Die Lesbarkeit der Welt:

    „Die Universalbibliothek, in der zwar schon alles steht,
    aber das Lesbare und erst recht das Zutreffende bis zur
    Minimalität eingekeilt ist ins Sinnlose und Unzutreffende,
    wäre durch eine Formelsammlung ersetzt, aus der
    jederzeit gewonnen werden könnte. [...] Das Ideal der
    Lesbarkeit der Welt und das ihrer vollendeten Formel
    schließen sich tendentiell aus.“

Das Lesen enthebt lediglich der Mühe des Lernens, wahre Bildung findet außerhalb der Bücherstube statt, in der Frische der unmittelbaren Erfahrung. Rousseaus Emile soll reisen, „um sich wahrhaft zu bilden“. Er soll die Verfassungen anderer Länder kennenlernen und herausfinden, wo sein Fleckchen Erde liegen könnte, an dem er glücklich wäre. Das Ergebnis dieser Bildungs- und Erfahrungsreise ist ernüchternd: Nach zwei Jahren kehrt Emile zurück und will nichts anderes, als das bleiben, was sein Lehrer aus ihm gemacht hat. Schließlich fragt er sich, was denn auf der Reise zu erfahren sei, das nicht in den Büchern stehe. Erfordert das Buch der Welt vielleicht eine andere Lektüre, als wir es gewohnt sind?

Doch mit dieser behelfsmäßigen Erklärung will sich Rousseau nicht zufriedengeben, es scheint ihm undenkbar, daß man den Gewährsmann seiner Kulturkritik, den Wilden, allein aus Büchern aufbaut. Deshalb betont er gegen den aufkommenden Exotismus der Reisebeschreibungen seiner Zeit den Wert der unmittelbaren Reiseerfahrung, wenngleich er zugeben muß, daß die Reiseerfahrung sich angesichts der Vermischung der Völker und Angleichung der Kulturen nicht mehr differenziert machen lässt. Dieser Widerspruch bestimmt noch heute den Tourismus. Keine Reise geschieht voraussetzungslos, keine führt je wieder in eine Terra incognita. Alles ist vorgeplant und vorgezeichnet und will doch noch entdeckt werden.

Zum touristischen Selbstverständnis gehört es, stets dorthin zu reisen, wo der Tourismus selbst noch nicht angekommen ist. Der Tourist von heute reist schneller und weiter, besteht größere Gefahren und Abenteuer, schließlich baut er dem Wilden die exotische Fremde auf, derentwegen er unterwegs ist.

Die Reise ist Teil einer gigantischen Dienstleistungsindustrie, vor der sie selbst schon wieder verschwindet. Doch für alle touristischen Reisen gilt, daß sie feine besondere Erfahrungen für den Reisenden darstellen. Deshalb weiß auch niemand, wie oder was diese Reise bilden soll. Der touristisch Reisende verhält sich als Medium, das die Wahrnehmung verdünnt und die Empfindung verhärtet. Hans Magnus Enzensberger stellt in seiner Theorie des Tourismus (1958) fest:

    „Wir haben eine Geschichte von Völkern. Die der Leute
    ist immer noch nicht geschrieben; deshalb fehlt es
    dem Tourismus, der eine Sache der Leute ist, an
    historischer Verständigung über sich selbst.“

In Anbetracht der sinnlichen und emotionalen Beschränktheit des modernen Touristen sollte dieser sich eindringlich fragen lassen, ob er auf Reisen etwas lerne, das er nicht ebenso gut oder besser zu Hause lerne. Das Rezeptionsvermögen arbeitet langsam und indirekt, so daß der Gewinn einer unmittelbaren Konfrontation mit der Fremde einen nur geringen Bildungsertrag zeigen kann. Wenn zu große Nähe den Menschen auf Dauer auf Distanz hält, produziert jedoch der Schock der Unmittelbarkeit eine andere, zunächst rein negative Erfahrung, nämlich die der Fremdheit. Alle Versuche, das Fremde beherrschen zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Das Fremde ist nicht Subjekt und nicht Objekt. Das Fremde ist ein aufsehenerregendes und schockierendes Ärgernis, weil der Mensch mit ihm nicht fertig wird. Hans Magnus Enzensberger beschreibt es in seinem Essay Revolutions-Tourismus (1973) so:

    „Sie kommen her in Kleidern der Überflußgesellschaft,
    deren Stachel sie sind, deren „unzuverlässiges Element“,
    versehen mit akademischen Titeln und Bücher schreibend
    für die Soziologie-Departements der besten Universitäten
    (von denen die Kosten getragen werden).“

Reisen und Literatur

Johann Joachim Winckelmann

Winckelmanns Leben und Streben sind bestimmt durch seine Entwicklung vom Buchgelehrten im Studierzimmer zum Beobachter auf Forschungsreisen. Damit hat er einen Wandel seiner Einstellung vollzogen, der auch zusammenhängt mit der Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts. In seinen Schriften wird Winckelmann nicht müde zu behaupten, er sähe alles selbst und betrachte alles mit eigenen Augen, er sei mit Herz und Verstand vor Ort. Für ihn gilt, daß er nur über das spricht, was er selbst auch sieht und empfindet.

Seinen Zeitgenossen fällt es nicht schwer, die Absichten zu erkennen und die Ergebnisse zu schätzen. Johann Gottfried Herder beispielsweise steigert die Person Winckelmann zum Muster und Idealtyp, wenn er in seinem Frühwerk Über die neuere Deutsche Literatur (1766/67) nach einem „Deutschen Winckelmann“ fragt, „der uns den Tempel der Griechischen Weisheit und Dichtkunst so eröffne, als er den Künstlern das Geheimnis der Griechen von ferne gezeigt“. In seinem Denkmal Johann Winckelmann (1778) wünscht er, „daß der Geist Winckelmanns sich auf den Künstler senke“. Herder identifiziert hier Winckelmann mit seinem Gegenstand; Winckelmann, der Seher und Fühler griechischer Kunst, wird ihm selbst zum Griechen.

Das Bedeutsamste, was über Winckelmann in dieser Zeit geschrieben wird, ist Johann Wolfgang Goethes Beitrag zum Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert (1805). Goethes Aufsatz enthält viele Kategorien und Auslegungen. Der Begriff „deutsch“ indes findet sich nicht darunter. Die vom Zeitgenossen Herder so nachdrücklich hervorgehobene nationale Sichtweise fehlt ganz. Goethe greift auf den traditionellen Epochenbegriff zurück, er verwendet „antik“ für „griechisch“ und nennt Winckelmann eine „antike Natur“. Goethe versucht in seiner Schrift, sowohl die Antike als auch die Person Winckelmann ins Absolute zu erheben.

    „Er sieht mit den Augen, er faßt mit dem Sinn unaussprechliche
    Werke, und doch fühlt er den unwiderstehlichen
    Drang, mit Worten und Buchstaben ihnen beizukommen.
    Das vollendete Herrliche, die Idee, woraus
    diese Gestalt entsprang, das Gefühl, das in ihm beim
    Schauen erregt ward, soll dem Hörer, dem Leser mitgeteilt
    werden, und indem er nun die ganze Rüstkammer
    seiner Fähigkeiten mustert, sieht er sich genötigt, nach
    dem Kräftigsten und Würdigsten zu greifen, was ihm zum
    Gebote steht. Er muß Poet sein, er mag daran denken,
    er mag wollen oder nicht.“

Für Goethe erweist sich Winckelmann in seiner Beschreibung der Statuen und in seinen sonstigen Schriften als Poet. Winckelmanns poetische Kunstgeschichte wird von einer voreiligen Verwissenschaftlichung der Forschung überlebt. Seine Aktualität bleibt vor allem dort bestehen, wo er Poet ist. Goethe spricht in Dichtung und Wahrheit (1811-1814) von einem „hohen Kunstleben“, das Winckelmann vor allem in Rom führt.

Winckelmanns Reise nach Rom ist eine Flucht. Die Weltstadt Rom dient ihm einerseits als Gegenentwurf zur Situation in Deutschland, dem bis dahin eine Metropole oder ein Zentrum nicht universitätsgebundener intellektueller Kultur fehlt. Auch gestaltet er Rom als Gegenentwurf zu Paris, wo zu dieser Zeit nicht die Kunst, sondern Gesellschaft und Politik gelten. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Marpurg, den er am 8. Oktober 1762 in Rom niederschreibt, bekennt Winckelmann:

    „Ich würde sagen: ich habe bis in das achte Jahr gelebet;
    dieses ist die Zeit meines Aufenthalts in Rom und in anderen
    Städten von Italien. Hier habe ich meine Jugend, die ich
    theils in der Wildheit, theils in Arbeit und Kummer verlohren,
    zurück zu rufen gesuchet, und ich sterbe wenigstens zufriedener;
    denn ich habe alles was ich wünschte erlanget,
    ja mehr als ich denken, hoffen und verdienen konnte.“

In Italien fühlt sich Winckelmann nicht allein aufgrund seiner ästhetischen Studien wohl, auch der freizügigere Umgang in Sitte und Moral kommt ihm entgegen.

Noch vorsichtig, aber eindeutig bekennt er sich zu seiner Homosexualität und lebt sie in Rom auch aus. In einem Brief an den baltischen Junker Reinhold Friedrich vom 9. Juni 1762 offenbart er diesem seine erotische Zuneigung:

    „So wie eine zärtliche Mutter untröstlich weinet um ein
    geliebtes Kind, welches ihr ein gewaltthätiger Prinz entreißt
    und zum gegenwärtigen Tod ins Schlachtfeld stellet;
    eben so bejammere ich die Trennung von ihnen, mein süßer
    Freund, mit Thränen, die aus der Seele selbst fließen.“

Winckelmann äußert sich über seine gleichgeschlechtlichen Sehnsüchte, indem er direkt an den Geliebten schreibt. Johann Joachim Winckelmann spricht damit schon vor August von Platen über die Liebe, die ihren Namen nicht nennt.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe ahnt, warum er zu seiner Reise aufbricht. Es ist die Reise, die alle anderen - früheren und späteren - in seinem Leben an Bedeutung in den Schatten stellen wird. Wie er diese Reise erlebt und beschreibt, hat bewirkt, daß seine Reise in den Süden zur Vorbildreise für alle folgenden Generationen von Reisenden wird. Diese Reise in den Süden wird von nun an mit zwei Zielen verbunden sein. Er will Natur und Kunst sehen oder, anders ausgedrückt, Sinnlichkeit und klassische Bildung erleben.

Goethes Italienreise ist vorgedacht und vorgelebt. Der Vater ist in Italien gewesen und schwärmt zeitlebens von dieser Reise. Die Reiseroute des Vaters steht Goethe während seiner Jugend vor Augen, auch anschaulich, auf einer Landkarte, die in seinem Zimmer hängt.4 Daß er für diese Reise gerüstet sein muß, ist Goethe seit seiner Studienzeit bewußt. Zweimal, 1775 und 1779, steht er auf dem St. Gotthard und kann sich beide Male nicht entschließen, nach Süden weiterzugehen.

Am 28. August 2786 feiert Goethe seinen 37. Geburtstag in Karlsbad, wo der Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, Johann Gottfried Herder und Charlotte von Stein eine Gesellschaft geben. Am 2. September nimmt er vage Abschied von ihnen und hat bereits sechs Tage später den Brenner erreicht. Am 8. September 1786 notiert er abends, nachzulesen in Die Italienische Reise (1816-1817):

    „Hierher gekommen, gleichsam gezwungen, endlich an
    einem Ruhepunkt, an einem stillen Ort, wie ich ihn mir
    nur hätte wünschen können. Es war ein Tag, den man
    Jahre lang in der Erinnerung genießen kann.“

Er ist in zwei Tagen in Trient, dann in Verona, Padua, Venedig, Florenz, Rom. Nach kurzer Pause geht es weiter nach Neapel und Sizilien, dann wieder zurück nach Rom. Am 1. November 1786 schreibt Goethe:

    „Ja ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!
    Wenn ich sie in guter Begleitung, angeführt von
    einem recht verständigen Manne, vor fünfzehn Jahren
    gesehen hätte, wollte ich mich glücklich preisen. Sollte ich
    sie aber allein, mit eigenen Augen sehen und besuchen,
    so ist es gut, daß mir dieser Freude so spät Theil ward.“

Der so heimlich, bei Nacht und Nebel von der Vertrauten sich davonstiehlt, ist nicht nur der längst bekannte Dichter deutscher Sprache, sondern auch Minister am Weimarer Hof, engster Berater und Freund des Herzogs. Aber all das kann als soziale Rolle und gesicherte Beziehung leichter von ihm überwunden und verlassen werden als das Problem, das den Reiseaufbruch notwendig macht: das Verhältnis zu der Frau, die während der letzten zehn Jahre Geistes-Verwandte, Beicht-Mutter und Seelen-Ärztin für ihn gewesen ist. Nur körperlich läßt sie sich von ihm nicht lieben. Dieser Teil der Beziehung ist ihm unerträglich.

Der Moment des Aufbruchs zur Reise ist für Goethe ein Aufbruch, wenn nicht sogar Ausbruch aus seinem Seelenraum. Er scheint zu wissen, was auf ihn wartet, südliche Landschaft und Witterung, die sinnliche Erwartung antiker Kunst und am Horizont das erotische Abenteuer.

Goethe überkommt in Rom ein neues Lebensgefühl, das er mit „Wiedergeburt“ und „neuem Leben“ umschreibt. Dieses neue Lebensgefühl wird am klarsten und unverhohlensten ausgesprochen in seinen Römischen Elegien (1788):

    „Herzliche Liebe verbindet uns stets und treues Verlangen,
    Und den Wechsel behielt nur die Begierde sich vor,
    Einen Druck der Hand, ich sehe die himmlischen Augen
    wieder offen -
    O nein! laß auf der Bildung mich ruhn!“

Zum Teil werden die Römischen Elegien von Goethe schon in Rom konzipiert, ausgearbeitet werden sie nach der Rückkehr in Weimar. Freimütig besingt er darin die freizügige Liebe. In den Römischen Elegien bekennt sich Goethe vollen Herzens und warmen Gefühls zu seiner Stadt Rom. So heißt es in der fünften Elegie:

    „O wie fühl ich in Rom mich wohl! Gedenk ich der Zeiten,
    Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
    Trübe der Himmel und schwer auf meinem Scheitel sich
    Senkte,
    Farb- und gestaltlos die Welt um den ermatteten Tag.“

Goethe hat in Italien den Raum seiner Selbsterfahrung ergänzt. Für ihn ist es wichtig, Abstand zu gewinnen und für eine Zeitlang, eine Reise lang, das Gewohnte und bedrückend Gewordene hinter sich zu lassen, sich ganz auf sich zurückzuziehen und sich neuen Eindrücken zu öffnen. Dazu reist er nicht irgendwo hin, sondern in das Land, in dem er Heilung von einer Krise erhofft. In seinen Tagebucheintragungen betont er immer wieder, wie unvoreingenommen er alles auf sich wirken lassen will. Dennoch ist seine Aufnahmefähigkeit auch von seinen Erwartungen gesteuert.

Es ergibt sich aus seinen Hoffnungen auf Italien als dem Land der Antike und der bedeutenden Kunst, wofür er aufgeschlossen ist. Er nennt es das „Wahre“ und das „Bedeutende“, das er wahrnehmen will.

Doch auch die Maßstäbe der Wahrnehmung sind selbst einem Wandel unterworfen. So hat er beispielsweise keinen Blick für die italienische Gotik eines Giotto und den italienischen Barock eines Bernini. Schließlich ist Goethe nicht unterwegs, um Kunstgeschichte zu studieren, wenngleich er sich Notizen macht über die Landschaft, das Leben der Völker und geologische Phänomene, sondern um das aufzunehmen, was ihm gemäß ist. Es geht ihm um die Aneignung bedeutender Kunst für das eigene Leben, das in eine Krise geraten ist.

Georg Forster

Als Georg Forster 1778 nach Deutschland kommt, ist er 24 Jahre alt. Mit seinem Vater bereist er zuvor Rußland, um schließlich unter dem Kommando von James Cook die Welt zu umsegeln. In Paris spricht er mit dem Naturforscher Georges Louis Leclerc de Buffon und in Washington diniert er mit Benjamin Franklin.

In London erscheint 1777 seine zweibändige Voyage around the world, von der selbst eine englische Zeitschrift zugeben muß, neben ihr nehme sich Captain Cooks Bericht von der Weltumseglung wie ein Matrosentagebuch aus. Nach Deutschland kommt Georg Forster als Anthropologe und Schriftsteller, der auf seinen Reisen vieles gesehen hat.

In Deutschland erscheint das Werk beim Berliner Verlag Haude und Spener 1778 und 1780. Christoph Martin Wieland bezeichnet es später als eines der merkwürdigsten Bücher seiner Zeit. Auch wenn es nicht die bedeutendste Reisebeschreibung seiner Zeit ist, so ist es doch die beste von allen Darstellungen, die über die epochalen Entdeckungsreisen Cooks geschrieben werden.

Georg Forsters kurzes, reiches Leben, er wird knapp vierzig Jahre alt, ist erfüllt von einer eigenartigen und einzigartigen Schule. Seine erste große Veröffentlichung, ebendiese Reisebeschreibung, ist ein Paukenschlag. Er nutzt darin die Gelegenheit, die Vielzahl der Gedanken und Ansichten zu ordnen, ihr Gewicht abzuschätzen, sie bekenntnisreich der kritischen Bewährung auszuliefern und somit seiner Feder Flügel zu verleihen. Dieses Buch ist Selbstverständigung und schriftstellerische Erprobung in einem und gewinnt seinen zusätzlichen Reiz darin, daß es gleichwohl mit einem Anspruch auftritt, der dem Bewußtsein der Harmonie und der Aufklärung und dem Gewicht des Gesehenen und Erlebten entspringt. In der Reise um die Welt sind noch heute die Nachwirkungen der Reiseeindrücke nachzuempfinden.

In einem Brief an seinen Verleger Spener vom Oktober 1776 spricht Forsters Vater, selbst ein Weltreisender, von sich als einem, „der sich zum Beobachtungsgeist schon auf seiner Reise nach Rußland bis in dessen asiatischen Teil jenseits der Wolga gewöhnt hat, der seinem Sohne ebendiese Fertigkeit zu bemerken auf ebender russischen Reise beigebracht habe“. Der dreizehnjährige Georg Forster spricht verschiedene Sprachen und entwickelt ein starkes Interesse für fremde Länder, deren Sitten und Gebräuche. Während sein Vater angeblich siebzehn Sprachen spricht, sie aber längst nicht grammatisch einwandfrei beherrscht, macht sich der Sohn wenige Sprachen zu eigen, besitzt aber ein ausgeprägtes Gefühl für Stil und Grammatik.

Ursprünglich sollte Georgs Vater, der damals bekannte Naturforscher Johann Reinhold Forster, auf James Cooks zweiter Weltumseglung mitfahren, um Forschungen anzustellen und Berichte anzufertigen. Der Sohn fährt mit, um als fähiger Zeichner die botanischen und zoologischen Entdeckungen festzuhalten.

Nach der Reise erhält der Vater zwar den offiziellen Auftrag seitens der englischen Admiralität, einen Reisebericht zu verfassen, der auf den Tagebüchern von Captain Cook beruht, doch seine offene Art im Denken und Handeln macht ihm Feinde, und sein Entwurf der Reiseschilderung wird abgelehnt. Schließlich verfaßt der Sohn, der auch Zeuge der Weltumseglung ist, den Reisebericht und veröffentlicht ihn 1777 mit großem Erfolg unter dem bekannten Titel A voyage around the world.

Georg Forsters schriftstellerische Kraft, sein besonderer Stil, kommt aus der Freude an emotionaler und intellektueller Besitznahme äußerer und innerer Erlebnisse und Eindrücke und ihrer Verdichtung zu Erfahrungen und Erkenntnissen, aus der Begeisterung an einer schöpferischen Gestaltung auf der Grundlage bereits gewonnener Ansichten und Einsichten,die beim Schreiben vertieft, erweitert oder korrigiert werden und ihn mit den aufklärerischen Ideen seiner Zeit verbinden. All das zusammen führt konsequent zu dem von Forster präzisierten Begriff der Empfindung. In seinem Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter spricht Georg Forster von seiner schriftstellerischen Existenz:

    „Schön ist der Lenz des Lebens, wenn die Empfindung
    uns beglückt und die freye Phantasie in rosigen Träumen
    schwärmt. Uns selbst vergessend im Anschauen des
    gefühlerweckenden Gegenstands, fassen wir seine ganze
    Fülle und werden Eins mit ihm. Nicht blos die Liebe spricht:
    gebt alles hin, um alles zu gewinnen! Bey jeder Art des
    Genusses ist diese unbefangene Hingebung der Kaufpreis
    des vollkommenen Besitzes. Aber auch nur was so innig
    empfangen, uns selbst so innig angeeignet ward, kann
    wieder ebenso vollkommen von uns ausströmen und als
    neue Schöpfung hervorgehn.“

Neben den Empfindungsregionen darf der Reiseschriftsteller die Denkregionen nicht vernachlässigen, sie müssen durch ein System wechselseitiger Kontrollen vor folgenschweren Irrtümern schützen. Empfindung und Phantasie sind daher als sinnliche Wahrnehmungsorgane zu reorganisieren, zur Einbildungskraft muß die prüfende Urteilskraft des Verstandes treten. Georg Forster charakterisiert in dem genannten Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter die notwendige kombinatorische Entdeckungskunst folgendermaßen:

    „Vergleichen, Ähnlichkeiten und Unterschiede bemerken
    ist das Geschäft des Verstandes, schaffen kann nur die
    Einbildungskraft.“

Die Bewegtheit seiner Darstellung erreicht Forster durch den Wechsel von sachlichem Bericht zu epischen Erzählformen, die wiederum unterbrochen werden durch Reflexionen, die den Sinn haben, das Werk insgesamt durch philosophische Selbstverständigung und sprachliche Wirklichkeitserkenntnis zu erhellen. Der erst dreiundzwanzigjährige Autor erstaunt seine Leserschaft durch bemerkenswerte Gedankengänge und Gefühlsregungen, die von der Epoche der Aufklärung und dem Beginn des Sturm und Drang beeinflußt sind. Forster greift mit großer Wachheit des Geistes und regem Interesse an den Idealen seiner Zeit alle Gedanken auf, die ihm wichtig erscheinen für den Aufbau seines eigenen Weltbildes. Im Mittelpunkt seiner Beschreibungen steht der Mensch.

Immer wieder versucht Forster, auf seinen Reisen und den folgenden Berichten die individuelle Situation der Völker zu erforschen und in ein historisches System einzuordnen. Er ist sich sicher, daß die Besonderheiten der Lebensformen eines Volkes von vielen Ursachen abhängen, die etwa den Nationalcharakter prägen, unter denen das Klima, der Pflanzen- und Tierbestand, geographische und geologische Bedingungen genannt werden können, die aber keineswegs ausreichen, Sitten und Gebräuche eines Volkes zu beschreiben.

Forster ist einer der wenigen, der in dem damaligen Fernziel Tahiti kein Paradies erkennt, statt dessen die historische Dynamik dieses Fleckchens Erde hervorhebt. Ernt Bloch formuliert es zweihundert Jahre später in seinen Essay Reiseformen des Wissens (1962) so:

    „Methode haben heißt mit dem Weg der Sache
    gehen [...] gerade auch im Reiseobjekt selber.“

Christoph Martin Wieland zeigt sich gerührt von Forsters Darstellung des Lebens fremder Völker. Wieland ist von der weltanschaulichen Haltung und der Erlebnistiefe des Autors angetan und besonders beeindruckt von der intellektuellen Verarbeitung des Materials, des Denk- und Anschauungsverfahrens und der Darstellungsart, vor allem von dem engsten Zusammenhang von Beobachtung und Reflexion. Das profundeste Urteil über Forster stammt jedoch von Alexander von Humboldt.5

Er sah durch Forster die Methode der Bearbeitung der Befunde, die sich mit der Darbietung verbindet, von der Erziehung zur Hinwendung an die Realität und zur Schlußfolgerung in zwei Richtungen bereichert, vom großartigen Debüt bis zu den späten Schriften.

In seinem fünfbändigen Werk Kosmos (1845-1862) hebt Humboldt hervor, daß etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Art der Naturbetrachtung aufgekommen ist. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß nicht mehr das Arsenal der Fakten und das Gewicht des Einzelwissens alle intellektuelle Anschauung unterdrückt, sondern das Bemühen um tieferes Verständnis und um größeres Eindringen in die Zusammenhänge die Vorherrschaft im Denken gewinnen. Forster ist zu den Forschern und Schriftstellern zu rechnen, die durch Anregung der Einbildungskraft „mächtig auf die Belebung des Naturgefühls, den Kontakt mit der Natur und dem davon unzertrennlichen Trieb zu fernen Reisen gewirkt“ haben. Besonders der Trieb zu fernen Reisen ist bei Georg Forster herauszustellen. Als er 1791 nach zwölfjährigem Aufenthalt im Binnenland endlich wieder das Meer grüßen kann, schreibt er in sein Tagebuch:

    „Dem Eindrucke ganz überlassen, den dieser Anblick
    auf mich machte, sank ich gleichsam willkürlich in mich
    selbst zurück, und das Bild jener drei Jahre, die ich auf
    dem Ozean zubrachte und die mein ganzes Schicksal bestimmten,
    stand vor meiner Seele. Die Unermesslichkeit
    des Meeres ergreift den Schauenden finstrer und tiefer
    als die des gestirnten Himmels. Dort an der stillen unbeweglichen
    Bühne funkeln ewig unauslöschliche Lichter.“

Alexander von Humboldt

Unsentimental, sich nur seiner Wissenschaft hingebend, so scheint es, reist Alexander von Humboldt. Ihm geht es nicht um Existenzerfüllung in der Ferne, sondern um die Erfüllung seiner Mission als Forschungsreisender. Diese Rolle hat nicht er geschaffen, schon andere vor ihm haben ihr erste Kontur verliehen. Humboldt wird einer der berühmten Naturforscher seines Jahrhunderts. Selbst Goethe bemerkt in den Wahlverwandtschaften (1809):

    „Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das
    Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller
    Nachbarschaft, jedesmal in den eigensten Elementen
    zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte
    ich nur einmal Humboldten erzählen hören.“6

Unübertroffen ist er in der Masse der publizierten Reiseberichte. Der größte private Reisebericht der Geschichte wird von ihm geschrieben und in Paris von 1805 bis 1834 unter dem Titel Voyage aux régions équinoxiales du nouveau contint in 34 Bänden veröffentlicht.

Sein Hauptwerk Kosmos, das von 1845 bis 1862 in fünf Bänden erscheint, knüpft bei klassischen Vorstellungen von Welt und Natur an und führt diese in die exakte Naturwissenschaft der Moderne über. Humboldt ist geprägt vom Humanitätsideal und der Weimarer Klassik. Charles Darwin, selbst einer der großen Reisenden, nennt ihn den „Vater einer großen Nachkommenschaft von Forschungsreisenden“. Das wird er dadurch, daß er nicht nur als Beobachter, Sammler und Organisator von Wissensfakten genial ist, sondern auch genial schreibt - anschaulich, genau und daher gut übersetzbar und nachvollziehbar.

Mit einem seiner Vorgänger ist er als Zwanzigjähriger in England; mit Georg Forster, der James Cook auf dessen zweiter Weltumseglung (1772-1775) begleitet und durch die Beschreibung dieser Reise berühmt wird. Mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland bereist er Spanien und Teneriffa, bricht dann als Dreißigjähriger zu seiner großen Südamerikareise auf, die bis 1804 andauert.

Alexander von Humboldt erforscht auf seinen Reisen alles. Er ist Botaniker, Geologe, Geograph, Zoologe, Meteorologe, Physiker, Astronom und Soziologe, indem er Gesellschaften beschreibt; er ist Historiker, Archäologe und Ethnologe, indem er fremde Gesellschaften untereinander und mit der eigenen vergleicht. Die Trennungslinie zwischen Naturwissenschaft und der Wissenschaft vom Menschen ist noch nicht scharf gezogen, zumal dann, wenn die Menschen, die es zu erforschen gilt, nicht Europäer sind. Der zivilisierte Forscher sieht sich der natürlichen Welt gleichsam als Geist gegenüber, als Ordnungs- und Reflexionsvermögen. Ferne Fremde wird mit den Methoden der Wissenschaft erfaßt, die sich als exakte Wissenschaft begreift.

Die Reise durch Südamerika ist mühselig, voll von Unwägbarkeiten, oft gefährlich. Bestimmte Hypothesen über Naturzusammenhänge lassen sich nur praktisch, durch Verifizierung der Fakten vor Ort, beweisen. So bereist er fünfundsiebzig Tage lang das Flußsystem des Orinoco und weist schließlich nach, daß der Orinoco und der Amazonas ineinander münden. Er besteigt den Chimborazo, um bestimmte Annahmen zur Vulkanologie zu überprüfen. Bei all seinem Tun legt Alexander von Humboldt in seinen autobiographischen Schriften Wert darauf festzustellen, daß er sich als souveränen, von Affekten ungetrübten Gelehrten-Geist sieht.

August von Platen

Als Platen seine vorübergehende Heimatstadt Erlangen im August 1824 verläßt, erfüllt er sich einen langgehegten Wunsch. Zum einen versucht er, der Enge in Deutschland zu entfliehen, er beantragt seine Beurlaubung vom Militärdienst und sagt seine Hilfstätigkeit in der Erlanger Universitätsbibliothek ab, zum anderen möchte er eine Studienreise unternehmen, um seine poetische Kraft und seine bildenden Kenntnisse aufzufrischen.

    „Der Morgen der Abreise ist angebrochen. In einer Stunde
    werde ich nach Nürnberg fahren, wo ich für heute bei Hermann
    bleibe und noch mehrere Geschäfte zu besorgen habe. Mit
    einer kleinen Geldsumme, die ich dort einzunehmen habe,
    führe ich nun im ganzen, den Kreditbrief mit eingeschlossen,
    461 Gulden mit mir auf der Reise, wofür sich hoffentlich nach
    Venedig und wieder zurückkommen läßt.“

Platen entscheidet sich für das klassische Reiseziel, nachdem er zuvor schon auf Reisen an Main und Rhein und in Wien und Prag war. Er will nicht eine standesgemäße Kavalierstour unternehmen, um hier gesellschaftlichen Schliff und Weltläufigkeit zu gewinnen, sondern auf einer Bildungsreise die Aneignung einer klassisch orientierten Bildung durch unmittelbare Anschauung der antiken Kunstwerke, ganz im Sinne Winckelmanns, fördern.

Von seiner ersten Italienreise7 liest Platen Johann Wolfgang von Goethes Italienische Reise (1786-1788), Johann Christoph Maiers Beschreibung von Venedig (1795-1796), Jean Baptiste B. D´Anvilles Analyse géographique d'Italie (1744) und Charles M. Dupatys zweibändige Lettres sur l'Italie en 1785 (1788). Trotz aller Schwärmerei für sein Reiseziel bleibt die Reisevorbereitung gewöhnlich. Weder eifrige Vorfreude noch schwärmerischer Ausdruck sind seinem Tagebuch zu entnehmen.

Nach Reiseantritt widmet sich Platen der Beschreibung seiner Reiseeindrücke. Er notiert geographische Merkwürdigkeiten. In Salzburg macht er Notizen über die italienische Konzeption des Doms. In Venedig macht er Erfahrung mit der politischen Situation. Die österreichische Herrschaft über Lombardo-Venetien hat nichts mehr zu tun mit seinem verklärten Bild der Republik Venedig. Seine Klage über den Verlust äußert er im Sonett XXIV melancholisch. Gert Mattenklott bemerkt über Platen:

    „Ein bewohnbares Denkbild der Kunst scheint Venedig ihm
    zu sein, dessen Bewohner singen und dichten, wenn sie sich
    als Volk versammeln, er selbst ein Sammler und Sinnierer
    über Macht und Ohnmacht des Ästhetischen, am Sonettkranz
    flechtend. [...]“

Platen verklärt seine Eindrücke von Venedig, eine Verklärung, die sowohl persönliche als auch ästhetische Wurzeln hat. In seinem Tagebuch verliert er kein Wort über die Einschränkung der Willens- und Meinungsäußerung der Venezianer, die die Okkupation durch tägliche Polizeikontrollen erdulden müssen. Im Mittelpunkt seines Diariums steht allein die Entdeckung und Gestaltung einer Kunstlandschaft. Dies steht im engen Zusammenhang mit Platens ästhetischem Programm, das die erlebte Wirklichkeit von den alltäglichen Eindrücken befreien soll, um eine rein ästhetische Form zurückzulassen.

In der ersten Strophe des bekannten Sonetts No. XXII kommt sein ästhetisches Anliegen klar und kenntnisreich zum Ausdruck:

    „Venedig liegt nur noch im Land der Träume.
    Und wirft nur Schatten her aus alten Tagen,
    Es liegt der Leu der Republik erschlagen,
    Und öde feiern seines Kerkers Räume.“

Auch Platen ist ähnlich wie Goethe vom Kunstideal Winckelmanns begeistert. Dessen Bewunderung drückt sich in dem Sonett An Winckelmann aus. In seinen Sonetten aus Venedig lehnt sich Platen an die Tradition der Italiendarstellung an, zu Hilfe kommt ihm dabei die vorbereitende Lektüre von Goethes Italienischer Reise.

Nach Winckelmann, dessen Homosexualität schon zu seiner Zeit kein Geheimnis ist, und Goethe, der sich ebenfalls auf sexuellem Gebiet befreit, wird für Platen, der die unerfüllte Liebe zu einem Kommilitonen vergessen hat, Italien zu einem Ort persönlicher und gesellschaftlicher Utopie. Bei aller Trauer und Klage über den Untergang und den Verfall des republikanischen Venedigs fallen für ihn in der Lagunenstadt Geschichte, Gegenwart und Zukunft zusammen. Hier glaubt Platen den Ort gefunden zu haben, an dem er sein Leben veredeln und es zu gelebter Poesie verwandeln kann.

Die große Wanderung

Entdeckung des Fremden

Schon vor fünfzig Jahren wird der allgegenwärtig erfahrene Umbruch in der Geschichte der Entdeckungen und des Reisens von Claude Lévi-Strauss als ein unwiederbringlicher Verlust beschrieben. In den Tristes Tropiques (1955) heißt es:

    „Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll
    traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen.
    Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört
    für immer die Stille der Meere. Eine Gärung von zweifelhaftem
    Geruch verdirbt die Düfte der Tropen und die
    Frische der Lebewesen, tötet unsere Wünsche und verurteilt
    uns dazu, halb verfaulte Erinnerungen zu sammeln.“

Mit der totalen Erschließung der Welt sind wir am Ende des Reisens und am Ende eines langgeträumten Traumes von der realen Erfahrbarkeit der fernen Fremde angekommen. Die Erde zeigt dem modernen Reisenden nunmehr als Kehrseite eines ursprünglichen Versprechens das beschmutzte und besudelte Antlitz einer zerstörten und befleckten und nie mehr wiederkehrenden Jungfräulichkeit. Reisen ist heute bestimmt von der Trauer über die verlorene Unberührtheit der Welt. Nur noch die Berichte vergangener Reisen, so Claude Lévi-Strauss, „geben uns die Illusion von etwas, was nicht mehr existiert und doch existieren müßte, damit wir der erdrückenden Gewißheit entrinnen, daß zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind.“

Die Reisenden des 20. Jahrhunderts sehen sich als Verlierer, betrogen „um die Möglichkeit, bis zu den Grenzen des von der Gesellschaft kontrollierten Territoriums vorzustoßen“.

Sie sehen sich der Chance beraubt, das Jenseits herauszufordern und sich bis zu jenen Randzonen vorzuwagen, wo sie Gefahr laufen, „entweder auf die andere Seite zu fallen und nicht wiederzukehren oder im Gegenteil aus dem ungeheuren Ozean ungenutzter Kräfte, der eine wohlgeordnete Menschheit umgibt, einen Vorrat an persönlicher Macht zu schöpfen“. Was bleibt, sind „traurige Tropen“, konventionelle Bilder und Redefiguren, die das unwiederbringlich Verlorene betrauern.

Claude Lévi-Strauss beschreibt als Reisender, als Archäologe, Ethnologe und Exilant der Jahre 1935 bis 1955 die Entdeckung, daß die Welt vielleicht zu klein wird für die Menschen, die sie bewohnen. Er sieht spätestens hier das „Ende des Reisens“. Damit schafft er einen Topos, mit dem heute, auf dem Hintergrund der technischen Entwicklungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg, das problematisch gewordene Verhältnis zur Fremde endlich zur Sprache gebracht wird. Erstaunlicherweise ist für viele der Fremde nicht der, der von fern kommt, sondern auch der, der nebenan wohnt.

„Nichts Menschliches ist mir fremd“, lautet ein geflügeltes Klassikerwort. Eine Logik liest sich vielleicht in der Gegenrichtung: Wirklich fremd, so ganz und gar, kann nur das Menschliche und können nur die Menschen einander sein. Vielleicht stellt deshalb Ernst Bloch fest: „Man muß unter die Menschen gehen, um Fremde unter Fremden zu treffen.“

Das abendländische Wissen über das Fremde sammelt sich in der Anthropologie und Ethnologie. Wie die ethnoi, die kleinen und größeren Verbände menschlichen Gemeinwesens, sich organisieren, was sie zusammenhält, das läßt sich bei den Fremden allemal besser studieren, denn deren Sitten und Gebräuche sind ebenso hervorstechend und unerklärlich, wie die eigenen transparent und selbstverständlich sind. Die ethnologischen Täter müssen sich jedoch die Frage stellen: Wie geschieht dieses Kennenlernen des Fremden, was überhaupt bedeutet es, das Fremde kennenzulernen.

Mit dem Interesse für die Wahrnehmens- und Entstehensformen des Fremden verbindet sich eine landläufige und traditionelle Erwartung an Literatur. Bei Herodot heißen die neugierigen Erkundungen noch Historien, Forschungen also, sie sind Sondierungen eines bis dahin unbekannten Terrains. Hubert Fichte hat Herodot als Vorbild benannt, und inzwischen hat ihn die Forschung zur Reiseliteratur als einen Ahnvater des Autopsie-Prinzips für sich entdeckt, der von sich behaupten kann, dagewesen zu sein und mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Claude Lévi-Strauss sieht in Jean-Jacques Rousseau den Begründer der Wissenschaft vom Menschen. Er arbeitet bei Rousseau zwei scheinbar gegenläufige, doch im Grunde komplementäre Grundzüge heraus: die Identifikation mit dem anderen und die Weigerung, sich mit sich selbst zu identifizieren. Im zweiten Band seiner Strukturalen Anthropologie (1975) schreibt Lévi-Strauss:

    „Rousseau, der so glänzend von sich selbst in der dritten
    Person spricht und manchmal sogar so weit geht, diese
    zu verdoppeln, und dadurch die berühmte Formel vorwegnimmt:
    ,Ich ist ein Anderer (je est un autre)‘ - die die
    ethnographische Erfahrung allererst bestätigen muß, ehe
    sie den ihr aufgegebenen Nachweis führen kann, daß der
    Andere ein ,ich‘ ist.“

Der Frage nach dem anderen und dem Fremden widmen sich in geradezu modischer Aktualität viele Beiträge der letzten Jahre. Das Fremde wird zum Kulturthema und das andere zur Poetik erklärt. Es fragt sich, wie die Konjunktur an Identitätsdebatten der letzten Vergangenheit in eine Gegenwart paßt, in der die Behauptung kultureller, ethnischer und rassischer Unterschiede zunehmend aggressivere Züge annimmt.

Wir leben in einer Welt, in der es zunehmend schwieriger wird, einander aus dem Wege zu gehen. Deutlicher gesagt: massenhafte Tourismusströme auf der einen, weltweite Fluchtbewegungen vor Krieg und Elend auf der anderen Seite.

Auch hier ist an Hubert Fichte zu erinnern, der den Einsatz seines Lebensprojektes, seiner Geschichte der Empfindlichkeit, durch das soziale Spannungsfeld von Touropa-Reisen und Hungerrevolten charakterisiert. So äußert er sich in einem Gespräch über sein Projekt:

    „Von Ausnahmen abgesehen, gibt es zwei Gruppen von Leuten:
    die mit Touropa reisen und die vor Hunger
    Militärkantinen plündern. Es geht mir darum, die Entwicklung
    eines Mitglieds der ersten Gruppe zu schildern
    und seine Reaktion auf die zweite.“

Das Verständnis oder Unverständnis fremden Gesellschaften gegenüber hängt von den Berichten der Journalisten, Schriftsteller und Ethnologen ab, denn was wir von anderen Menschen und Kulturen wissen, wird uns stets durch eine bestimmte Form der Darstellung vermittelt. Doch neben der Form der Darstellung im Bericht stellt sich die Frage, wer diesen Bericht verfaßt.

Die wenigen deutschsprachigen Autoren der achtziger Jahre, die in die Fremde reisen, unternehmen diese Fahrt, um zu lernen. Sie wollen den deutschsprachigen Lesern Berichte liefern zu einem besseren Verständnis der fremden Welt, hier vor allem der Beziehung zwischen sogenannter Erster und Dritter Welt. Paul Michael Lützeler erklärt es in seinem Aufsatz Der postkoloniale Blick (1996) so:

    „Nicht mit dem überlegenen, besserwisserischen, ausbeuterischen
    und missionarischen kolonialen, sondern mit
    dem offenen, wißbegierigen, solidarischen und gleichwohl
    kritischen postkolonialen Blick suchen sie das kulturell
    andere zu erkennen.“

Zu den Erkundern der Dritten Welt in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört neben Hans Christoph Buch, Hans-Jürgen Heinrichs und Uwe Timm vor allem Hubert Fichte. Andere Autoren wie Günter Grass, Luise Rinser oder Martin Walser haben zwar Reisetexte vorgelegt, doch ist in ihnen nicht immer deutlich das Postulat „Ich ist ein anderer“ zu hören.

Mit Recht schreibt Hans-Jürgen Heinrichs in seinem Aufsatz Wer spricht (1992), daß „diejenigen aber, die ihr Handwerk als Ethnologen und als Schriftsteller beherrschen, die sich dem Ethos eines Chronisten und eines Dichters verpflichtet fühlen“, selten sind. In seinem letzten Buch Das Feuerland-Projekt (1997), das sich ganz dem Reisen widmet, formuliert Hans-Jürgen Heinrichs ebenso treffsicher:

    „Wer ein Gespür für Reisen hat, bringt gedachte und reale
    Bewegungen weitgehend zur Deckung, läßt sich auf
    Wirklichkeiten ein, die ihm entsprechen, die zu ihm passen. In
    diesem Sinne reist er gelegentlich nicht in die,,Fremde‘,
    sondern in das ,Eigene‘.“

Tourismus und Moderne

Vor hundert Jahren dient die Reise vorwiegend praktischen Zwecken und betrifft nur kleine Teile der Bevölkerung. Neben den Entdeckungs- und Forschungsreisen gibt es Reisen aus religiösen Motiven, zu Handelszwecken und zur Suche nach Erwerbsmöglichkeiten. Später kommen Vergnügungsreisen und Gesundheitsreisen hinzu, sogar Ferienkolonien und Schülerreisen gibt es. Einzig die uns heute vertraute Weltreise ist zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt.

Erst die im Erwerbsleben durchgesetzte klare Trennung von Arbeit und Freizeit und eine verbindliche Urlaubsregelung verstärken den Wunsch nach Vergnügungsreisen, die die gesamte Welt mit einschließen. Erst als die Menschen in den Städten wohnen, lernen sie die Natur zu lieben und sich nach der ,exotischen Fremde zu sehnen. Zunehmend setzen sich die Gesellschaftsreisen durch, sprich umfassend organisierte Fahrten.

Die nun freigesetzten Reiseströme überschwemmen riesige Landschaften, und es gibt kaum unberührte Nischen auf dem Globus. Der moderne Tourismus durchdringt die Welt und ist gleichzeitig eine Welt für sich, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, mit eigenen Studiengängen, mit einem weit verzweigten Berufsnetz vom Animateur bis zum Zugschaffner, mit vielfältigen Zielorten, unterschiedlichen Verkehrsmitteln und verschiedenen Formen des Aufenthalts.

Es entsteht eine bunte Welt. Die großen Reisebüros sind die Supermärkte der mobilen Gesellschaft. Die Prospekte übertrumpfen sich gegenseitig in kräftigen Farben und verlockenden Angeboten. In den zentralen Verteilerstellen des Tourismus herrscht eine Vielfalt, die das Einzelziel beliebig erscheinen läßt. Der Chartertourist auf den großen Flughäfen wird verlockt von exotischen Verheißungen: Las Palmas, Helsinki, New York, Sao Paulo, Hongkong. Wenn die Ankündigungen auf der großen Tafel rotieren, hat der Reisende Mühe, sein eigenes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Wo immer er ankommt, tritt ihm eine bunte Palette von Möglichkeiten und Angeboten gegenüber: Betriebsamkeit und Erholung, Abwechslung und Ruhe, Fremdes und Vertrautes.

Den modernen Tourismus kennzeichnen zu wollen muß angesichts seiner Buntheit schwerfallen. Grenzenlos scheint er zu sein, in räumlicher und in zeitlicher Hinsicht. Der Anteil von Reisen in außereuropäische Länder wächst stärker als die Gesamtzahl der Reisen, d. h. während Fernreisen noch in den siebziger Jahren zu den seltenen Ausnahmen gehören, sind sie in den Neunzigern bereits fester Bestandteil des bunten Angebots. Riesige Distanzen werden überwunden und letzte Reservate touristisch erschlossen. Der räumliche Ausgriff hat seine Entsprechung in der zeitlichen Organisation der Reisen. Hohe Geschwindigkeiten moderner Verkehrsmittel lassen Entfernungen schrumpfen. Reisen ist auch zeitlich unbegrenzt.

Das Erscheinungsbild eines grenzenlosen Tourismus kommt vor allem dadurch zustande, daß früher deutlich gezogene Markierungen verwischt und übersprungen werden. Exklusive Ferienziele von einst stehen heute in jedem Reiseprospekt. Früher waren fast alle Ferienziele besonders, heute sind sie alltäglich.

Schließlich verblassen selbst die kulturellen Grenzen. Zwar werben die Reiseveranstalter mit den Eigenheiten ihres Zielortes, doch die Beliebigkeit des Aufzählens von Unterschieden und Gegensätzen macht skeptisch, daß das Kulturspezifische doch nur für den Touristen aufbereitet ist. Jeder kulturellen Erscheinung wird ein Stück des Eigenen genommen, um auf diese Weise vom Touristen leichter verdaut werden zu können: Was einmal bedrohlich fremd war, ist nun bekömmlich exotisch.

Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen. Während man sich früher noch über das Wetter unterhält, spricht man heute über das Reisen. Hans Magnus Enzensberger hat versucht, den modernen Tourismus aus der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu erklären. Seitdem ihr der Wunsch nach politischer Freiheit endgültig versagt bliebe, folge sie dem Wunschtraum in die Ferne und nach unberührter Natur. Sie sucht den Einschnürungen der industriellen Welt zu entgehen, daher der Massenaufbruch. Kritiker des Tourismus versuchen immer wieder, ihren Gegenstand zu denunzieren und nicht zu begreifen.

Die Menschen suchen die unberührte Natur und tragen mit ihren Reisegenossen dazu bei, ebendiese zu zerstören. Die Menschen suchen Entspannung und Erholung und setzen sich gleichzeitig beschwerlichen und ungesunden Reisewegen aus. Das sind die Widersprüche des Tourismus, doch fangen sie das Wesentliche des Massentourismus ein? Schließlich sind alle Kritiker des modernen Tourismus in der einen oder anderen Form am Tourismus beteiligt. Sie ärgern sich über alles und kommen am Ende des Urlaubs zu dem Schluß, daß es eigentlich doch ganz schön war. Die Berichte von überfüllten Stränden, verschmutzten Buchten und lärmerfüllten Hotels werden zu dem merkwürdigen Ergebnis addiert, daß es „ganz prima“ gewesen sei. Auf die heftig propagierten schönsten Wochen des Jahres hat der Reisende lange gespart und gewartet, so daß es gewissermaßen um seiner Selbstachtung willen darum geht, die Reise als Erfolg zu verbuchen. Hans Magnus Enzensberger schreibt in seiner Theorie des Tourismus (1958):

    „Die Bloßstellung ihrer Kritiker kann Hinweise für
    ein Verständnis der touristischen Bewegung liefern,
    doch kann sie es nicht fundieren.“

Die touristische Reise ist nicht nur eine Ortsveränderung, sondern ein beschränkter Ortswechsel, der eine besondere Erlebnisqualität vermittelt. Die Zielregionen sind in großer Hinsicht Gegenwelten zu dem, was die Menschen sonst umgibt. Die Reisenden sind sich im klaren darüber, daß ihnen vieles nur vorgeführt wird und sie ebenfalls nur vorgeführt werden. Die Retuschen und Maskeraden sind geradezu notwendig, denn wo die Natur von Grund auf beschädigt ist und die sozialen Strukturen zerstört sind, hilft nur noch der Heimatabend, der die gute alte Zeit in fröhlicher Gemeinsamkeit beschwört.

Die Schäden durch den Tourismus sind immer auch Schädigungen des Tourismus. Zu den Hauptwünschen der Urlauber zählt nach wie vor die gesunde Luft und die saubere Umgebung, die allerdings gleichzeitig durch die Tourismusindustrie zerstört werden. Den Touristen in ihrem Tun Gedankenlosigkeit vorzuwerfen greift zu kurz, denn in der Bewegung des Tourismus steckt die Idee der Grenzenlosigkeit. Wer aus den beengenden Verhältnissen des Alltags ausbricht, orientiert sich nicht an neuen Beschränkungen. Das Bedürfnis des Aufbruchs und Ausbruchs ist nicht zu leugnen, doch sinnvolle Grenzen müssen respektiert werden.

Poesie und Reise

Der Ursprung des Daseins scheint Bewegung zu sein. Ohne Bewegung wäre das Dasein nichts. Deshalb scheint das Reisen, als eine Form von Bewegung, ein wesentlicher Teil des menschlichen Daseins zu sein. Die Ruhe und die Starre, der Stillstand und der Schlaf sind die Feinde des Reisens.

Die Reise offenbart den Charakter des Menschlichen, denn auf der Reise findet der Mensch zu sich selbst und lernt sich kennen. Der Tourismus ist Reisen aus Selbstzweck. In der Moderne nimmt der Tourismus jene Rolle ein, die in der Antike die Theorie innehatte. Vilém Flusser schreibt in seinem Buch Von der Freiheit des Migranten (1994):

    „Theorie bedeutet etwa ,sight seeing‘ (Ansehen des
    Sehenswerten), und die klassische Theorie unterscheidet
    sich von der modernen grundsätzlich durch
    ihre Reinheit, das heißt dadurch, daß sie nicht vorhat,
    angewandt zu werden. Absichtslose Gratuität als
    Katharsis ist also dem modernen Tourismus gemein,
    und man kann die Gegenwart nicht verstehen und die
    Zukunft nicht ahnen, ohne das Phänomen des Tourismus
    ernst zu nehmen. Eine Phänomenologie des Tourismus
    ist noch zu schreiben.“

Die Geschichte des Tourismus oder die Wissenschaft vom Tourismus steckt noch in den Kinderschuhen. Bereits dreißig Jahre, bevor Vilém Flusser hierauf aufmerksam macht, formuliert Ernst Bloch in seinen Reiseformen des Wissens (1962):

    „Methode haben heißt mit dem Weg der Sache gehen,
    und der Weg der Sache verlangt universitas, genetisch
    gegliederte Totalität des Blicks. Steht doch das Totum
    selbst, jenes Ganze, das wirklich die Wahrheit wäre,
    erst sehr genetisch, erst sehr latenzhaft im Begriffe,
    hier zu sein, im real-utopischen Begriff. Das ist der
    Sinn der merkwürdig überlieferten Reiseform des
    Wissens, ein noch unstatischer Begriff, gerade auch
    im Reiseobjekt selber.“

Die etablierten wissenschaftlichen Vertreter, die sich um dieses Thema kümmern könnten, sind in der Mehrzahl zu finden unter den Literaturwissenschaftlern oder den Ethnologen. Leider haftet ihnen immer noch in der Regel der Habitus von Ethnozentristen an. Sie versuchen nach wie vor, nicht die Sprachlichkeit ihrer Erkenntnisse und die Frage nach dem Stil ihrer Untersuchung in die akademische Arbeit mit einzubeziehen. Hubert Fichte schreibt in seinem Roman Forschungsbericht (1981):

    „Wahrscheinlich ist die Forschung erst mit dem Leben
    abgeschlossen, und dann hat man nicht mehr Zeit,
    alles aufzuschreiben.“

Anmerkungen:
1 Lawrence Sternes Erlebnisbuch findet sein glanzloses Plagiat in Johann Gottlieb Schummels Empfindsame Reise durch Deutschland (1770-1772).
2 Daniel Defoes Erfolgsroman findet sein deutsches Plagiat in dem Jugendbuch Robinson der Jüngere (1779) von Johann Heinrich Campe.
3 Gustave Flaubert nimmt auf seine Ägyptenreise 1849 den Fotografen Maxime du Camp mit. Auch Arthur Rimbaud wird auf seiner Expedition nach Abessinien von einem Fotografen begleitet.
4 In Dichtung und Wahrheit erinnert sich Goethe, daß sein Vater eine Sammlung der „besten neuesten Reisebeschreibungen“ besaß.
5 Forster hat großen Einfluß auf seine Zeitgenossen, darunter auch auf Alexander von Humboldt, mit dem er 1790 die Niederlande, Großbritannien und Frankreich bereist.
6 Aus Ottilies Tagebuch im 17. Kapitel der Wahlverwandtschaften.
7 August von Platens zweite Italienreise im August 1829 ist eine Flucht. In den Tagen dieser Flucht entsteht die bekannte Ode Warm und hell dämmert die Winternacht.
* Vortrag in der Urania am 2. Mai 2000


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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