Eine Annotation von Kathrin Chod
Altwegg, Jürg:
Die langen Schatten von Vichy
Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des
Verdrängten.
Carl Hanser, München 1998, 389 S.

Die französische Kultur der Nachkriegszeit bis heute war einzigartig in ihrer Ausstrahlung, aber sie war rückwärtsgewandt. Das meint jedenfalls Jürg Altwegg, Frankreichkenner aus der Schweiz und Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Seine hier vorliegenden Essays widmen sich u. a. Jean-Paul Sartre, Marguerite Duras, dem Dichterpräsidenten François Mitterrand, den Historikern François Furet und Raymond Aron, der Philosophin Sarah Kofman, dem Moralisten Albert Camus, dem Kommunisten Louis Althusser und dem Mythenforscher Georges Dumézil. Sie geben gleichzeitig ein informatives Bild der Debatten und Strömungen in Frankreich nach 1945, aber sie unterstreichen vor allem Altweggs These: Frankreich sei von der Katastrophe der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht 1940 und der Kollaboration des Vichy-Regimes so tief erschüttert worden, wie von keinem Ereignis seit der Revolution von 1789. Und wie ein Psychiater die Existenz eines einzelnen Menschen mit den bösen Erfahrungen in der Kindheit erklärt, glaubt der Autor in seinen hier vorliegenden Beiträgen die französische Gesellschaft und vor allem deren geistig-kulturelles Leben aus der Zeit von 1940 bis 1945 heraus zu deuten: „Die Niederlage von 1940, der Schock, den sie auslöste, das Trauma, das sie hinterließ, haben die französische Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert und die Dialektik der Aufklärung gewissermaßen umgekehrt. Die entscheidenden geistigen Aktivitäten waren nach 1944/45 rückwärtsgewandt – dies den Intellektuellen aber in keiner Weise bewußt. Sie glaubten, eine neue Zeit und die klassenlose Gesellschaft vorzubereiten – letztlich haben sie immer nur den Krieg nachgespielt.“ Der Marxismus erscheint als Ideologie der Vichy-Verdrängung, als Opium der Intellektuellen. So ist es kein Wunder, daß er wichtigen Vertretern der französischen Nachkriegskultur nachweist, sie hätten völlig überzogen und nur aus schlechtem Gewissen heraus gehandelt. Jean Paul Sartre war alles andere als ein Widerstandskämpfer, was man zwar auch von niemandem verlangen könne, nur eben mit dessen nach dem Krieg selbst aufgestellten hohen moralischen Ansprüchen nicht in Übereinstimmung stand. Wenn Sartre nach dem Krieg behauptete, es habe in dem besetzten Land nur die Wahl zwischen Kollaboration oder Widerstand gegeben, so hatte er sich wie die Mehrzahl der Franzosen dieser Wahl einfach entzogen. So geht es auch in seinen erst postum veröffentlichten Tagebüchern jener Zeit nicht um Folter und Konzentrationslager, sondern um Theaterproben, Diskussionen, Veröffentlichungen und Buchpläne. Sarte hält während der deutschen Besatzungszeit Vorträge, und sein Stück „Geschlossene Gesellschaft“ wird uraufgeführt, Simone de Beauvoir arbeitet für Radio Vichy, François Mitterrand ist Mitglied der Legion für die nationale Revolution, Marguerite Duras arbeitet als Sekretärin für die Verteilung von Papierkontigenten und publiziert ihr erstes Buch, das sie später aus ihrer Biographie tilgt. Nach dem Krieg foltert Marguerite Duras eigenhändig Verräter, später „verwandelt“ sie sich in eine Jüdin, so daß selbst ihr Sohn glaubt, seine Eltern wären Juden. Sartre hingegen schreibt „Der Schriftsteller paßt zu seiner Epoche: Jedes Wort hat einen Widerhall. Jedes Schweigen auch. Ich betrachte Flaubert und Goncourt als verantwortlich für die Unterdrückung, die auf die Kommune folgte, weil sie keine Zeile schrieben, um sie zu verhindern.“

Mit dem Niedergang des marxistischen Einfluß in der Kultur seit 1978 wurde auch Sartre „so radikal vom Sockel gestürzt, wie man ihn zuvor verehrt hatte“. Die schnell gewendeten Intellektuellen stellten wieder eine Analogie zur Zeit von 1940-1945 her, so wurde die französische Teilnahme an den Olympischen Spielen von Moskau nun als Kollaboration eingestuft, französische Schriftsteller identifizierten sich mit den Dissidenten aus sozialistischen Staaten und sahen sich damit im „Widerstand“, und nach der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen gebärdeten sich französische Intellektuelle, „als wären sie diesmal bereit, für Danzig zu sterben“. Solcherart hysterische Aufrufe, vergleichbar der französischen Reaktion auf die Mitte/Rechts-Regierung in Österreich, hatten nun aber mit der wirklichen Résistance nicht viel gemein, denn hier riskierte niemand mehr sein Leben. Es war sicher auch kein Wunder, daß die Wortführer der aktuellen Kampagnen gewendete Maoisten, Marxisten u. ä. waren. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang die Aussage von Raymond Aron, eines konservativen französischen Historikers jüdischer Herkunft. Vor einem Gericht verteidigte er den dem Faschismusverdacht ausgesetzten Bertrand de Jouvenel: „Das nationalsozialistische Gedankengut war in ganz Europa präsent. Wir waren bestürzt über die Schwäche der Demokratie und fühlten den Krieg nahen. Von da aus haben wir alle etwas geträumt. Aber es ist unakzeptierbar, deswegen Leute zu diffamieren, die man respektieren muß - auch in ihren Irrtümern.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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