Eine Rezension von Christel Berger

Plädoyer für einen unangepaßten Großen

Heinrich Vormweg: Der andere Deutsche
Heinrich Böll. Eine Biographie.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 403 S.

Als ich in den 60er Jahren Germanistik in Rostock studierte, war es für jeden Studenten, der etwas auf sich hielt, Pflicht, zwei Seminare zu besuchen. Das eine galt Thomas Mann und das andere Heinrich Böll. Letzteres geleitet von Prof. Dr. Hans-Joachim Bernhard, dessen kürzlichen Tod ich aus der Zeitung erfuhr. Er war ein guter Lehrer und ein großer Verehrer Heinrich Bölls.

Also Heinrich Böll: „Der Zug war pünktlich“ (1949), „Wo warst Du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einzig Wort“ (1953), „Haus ohne Hüter“ (1954), „Billard um halb zehn“ (1959), zumeist verlegt im Union Verlag und in den Buchhandlungen „Bückware“, aber wir hatten ja eine gut bestückte Universitätsbibliothek. Früher noch als Franz Fühmann, der in Leben und Werk das Pendant als wiederum der „andere Deutsche“ zu Böll darstellen könnte, lasen wir Bölls Kriegsgeschichten und frühe Romane und waren seitdem seine Fans. Auch für uns war er der „andere Deutsche“, aber ganz anders, als es Heinrich Vormweg mit seinem Buch meint: Er war der Repräsentant der fortschrittlichen Literatur des anderen Deutschland. Mit jedem neuen Buch von ihm suchte ich Bestätigung meines Urteils. Es gelang mir nicht immer, weil ich - ich weiß es heute und dank Heinrich Vormweg noch genauer - den realistischen Roman von ihm erwartete, dessen Kriterien wir gelehrt bekommen und zeitweilig verinnerlicht hatten: ein geschlossener Roman mit einem allwissenden, kritisch urteilenden Autor. Die neuen Bücher Bölls (und natürlich gab es auch Möglichkeiten, sich die von den DDR-Oberen verbotenen „Ansichten eines Clowns“ zu besorgen) aber waren anders, manches wirkte gebrochen, unfertig, gehetzt, und der Erzähler war auch nicht allwissend, im Gegenteil: vielleicht überwältigt, auf jeden Fall höchst betroffen von Ereignissen und Geschehnissen, die seiner Vorstellung einer gerechten, guten Welt widersprachen. Also ein veränderter Böll, immer aber kritisch, zornig, traurig, manchmal bissig und dazu heiter - nein: voll von bösem Humor. So blieb er mein Favorit, denn immer war es wichtig für mich, was er schrieb. Es regte mich auf, bezog mich ein in die manchmal wütende, aber auch zuweilen stille Empörung des Autors über Zustände und Verhältnisse in seiner Welt. Damals glaubte ich, Souveränität des anderen Deutschland darin zu erkennen, daß es einen solchen Unangepaßten als „Leitfigur“ hatte. Daß ich mich dabei irrte, entdeckte ich erst allmählich, Heinrich Vormwegs Darstellung hat mich nun gänzlich davon geheilt. Nein, trotz Nobelpreis und anderer Ehrungen haben ihn die meisten der anderen Deutschen nicht anerkannt. Er hatte es unter ihnen nicht leicht.

Die nun erschienene Biographie von Heinrich Vormweg war für mich zum einen wie ein Treffen mit einem alten Bekannten und zum anderen die Entdeckung, wie wenig ich doch den Freund gekannt habe. Auf alle Fälle hat mich Heinrich Vormweg zum Wiederlesen gezwungen. Neben den bekannten Büchern, die plötzlich neue Seiten offenbaren, greife ich auch zu Texten, die mir bisher entgangen waren. Und siehe, auch die frühen Arbeiten waren, nicht alles, was er damals geschrieben hat. Die viel „härteren“ Sachen wurden erst Jahrzehnte später gedruckt! Und Heinrich Vormwegs Buch bietet noch weitere interessante Auskünfte. Hat man sich nämlich an den etwas verschachtelten Stil gewöhnt, ist das Buch eine Offenbarung: Über den emsigen Arbeiter Böll, den „geborenen Katholiken“, der lebenslang mit der Institution Kirche im Kampf lag, über den Nichtakademiker, dem der Krieg die Möglichkeit zu studieren genommen hatte. Viel erfahren wir über seine Stellung im westdeutschen Literaturbetrieb, seine politische Haltung und vor allem über seine Literaturvorstellung, sein Credo. „Schreiben, schreiben, schreiben“ - wie eine Sucht betrieb der Jugendliche den zukünftigen Beruf, und auch mit der allmählichen Anerkennung wird er nicht rastloser. Aus der „Waschküche armer Leute“ kommend, wird ihn diese Herkunft immer prägen - sozial und künstlerisch. Sein Erlebtes, sein Stoff führt ihn zu der Form, die diesem Material angemessen ist. So experimentiert er um der Adäquatheit des Stoffes - nie der Moderne - willen. Und zudem wollte er von vielen verstanden werden, ohne es ihnen allzu leicht zu machen. Auf Ehrungen und gar Vereinnahmungen reagiert er spröde, ja skeptisch bis unwillig. Er war und blieb trotz Nobelpreis ein Einzelgänger, ein Ruheloser, ein Quertreiber.

Heinrich Vormweg unterscheidet sich von vielen, auch guten Biographen dadurch, daß er nicht versucht, ganz und gar hinter seinem „Helden“ zu verschwinden, indem er anscheinend nur die Fakten sprechen läßt und sich damit ganz „objektiv“ dünkt. Er bringt sich ein: 10 Jahre jünger, in den letzten Jahrzehnten mit Böll befreundet. Auch die Zeit, die Böll nicht mehr erlebte, bedenkt er im Sinne des Freundes und sieht das Vergangene mit der Erfahrung der Gegenwart. Zugleich bedeutet die geistige Nähe zum Freund keineswegs, sich etwa mit dieser Bekanntschaft zu brüsten und die Beschreibung von Leben und Werk allein dieser Kenntnis zu überlassen. Nein, Vormweg hat gründlich gearbeitet, das ganze, auch unveröffentlichte Werk Bölls noch einmal gelesen, durchgearbeitet, in den Zusammenhang zu gleichzeitig entstandenen literarischen Werken anderer Autoren gestellt und die wichtigsten Reaktionen dazu vermerkt. Alles zusammen zuzüglich der aus historischer Distanz gewonnenen Zeitsicht Vormwegs (und sein Urteil ist scharf und überlegt!) ergibt sein Bild, sein Urteil, sein Plädoyer für Böll. Für einzelne Verhaltensweisen des Freundes, aber auch das Neulesen der Texte von damals besorgt der Literaturwissenschaftler überzeugend. Ein Biograph, der in punkto Engagement und Eigensinn seinem Autor gleicht. Wie Heinrich Böll ein Weltverbesserer und Kritiker des Bestehenden. Sein Resümee: „Böll und sein Werk stehen so kompakt, einfühlend und fordernd für ein menschliches und gesellschaftliches Wunschbild in Deutschland, das in diesem Land kurzsichtig und oft leichtfertig als inzwischen verwirklicht angesehen wird, obwohl immer noch zu viele Indizien dagegen sprechen. Es ist das Wunschbild eines intakten, in der Kultur fundierten, auch literarisch bestätigten demokratischen Zusammenlebens.“

Sympathisch, daß Heinrich Vormweg nach dieser enormen Arbeit und der Sicherheit seines Urteils auch bekennt: „Ich bin nicht fertig mit Böll.“ Also: Lesen, lesen, lesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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