Eine Rezension von Jan Eik

Handlungsbedarf dringend geboten

Sabine Rückert: Tote haben keine Lobby
Die Dunkelziffer der vertuschten Morde.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000, 304 S.

Als Autor von Kriminalromanen hält man sich üblicherweise an zwei moralisch korrekte Grundregeln: üblen Zeitgenossen keinerlei Anleitung zu verbrecherischen Taten (sprich: Morden) zu liefern und - mitunter entgegen eigenen Erfahrungen und Kenntnissen - der Gerechtigkeit oder gar der Justiz am Ende den verdienten Sieg über das Verbrechen zu überlassen. Nur in Frauenkrimis kommen die - vorwiegend bedauernswerten - Täterinnen häufig ungeschoren davon. Ansonsten gibt es das vollkommene Verbrechen bekanntlich nicht. Jedenfalls nicht in Deutschland. Oder?

Da kommt nun eine studierte Zeitungswissenschaftlerin und Theologin und durchaus renommierte Journalistin von „Bild“, „taz“ und „Die Zeit“ daher und behauptet genau das, was Eingeweihte schon immer gewußt oder wenigstens angenommen haben: Die Dunkelziffer der gänzlich unbemerkten, fahrlässig übersehenen oder bewußt vertuschten Morde übersteigt die Gesamtzahl der Tötungsverbrechen um ein Mehrfaches. Der vollkommene Mord ist häufiger als der aufgeklärte.

Sabine Rückert behauptet derlei keineswegs aus Sensationslust, und sie bleibt die Beweise für diese erschreckende These, von der namhafte Rechtsmediziner seit langem ausgehen, nicht schuldig. In sechs Kapiteln, die sie jeweils mit authentischen Fällen anreichert, weist sie beispielsweise nach, „Warum Hausärzte, Notärzte und Mediziner in den Kliniken Morde übersehen“, „Wie Polizei und Staatsanwaltschaft die Entdeckung von Tötungsdelikten verhindern“, und untersucht die „Grenzen der Rechtsmedizin und ihre Stellung in der politischen Defensive“. Das nämlich ist die wahre Crux der nicht wahrgenommenen Tötungen: Ihr Bekanntwerden würde die Kriminalstatistik in die Höhe treiben und die Bevölkerung beunruhigen. Außerdem kosten der Nachweis und die rechtsmedizinischen Untersuchungen in allen zweifelhaften Todesfällen Geld. Und daran mangelt es im Gesundheitswesen bekanntlich schon für die Lebenden. Also werden weiter Kinder unbemerkt eines gewaltsamen Todes sterben, alte Menschen an falschen oder falsch dosierten Medikamenten zugrunde gehen und Tötungsverbrechen nur oberflächlich getarnt als Unfälle durchgehen. Selbst Serienmörder sind, wie Rückert nachdrücklich belegt, gelegentlich vor Nachforschungen beinahe sicher.

Die Autorin hat sich gut informiert. Sie stellt die laschen gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik, nach denen jeder beliebige Gynäkologe oder HNO-Arzt, der seit dem Studium keine Leiche mehr gesehen hat, den Totenschein ausstellen kann und der Täter anschließend vor jeder Ermittlung beinahe sicher sein darf, die exakt geregelte gesetzliche Leichenschau in anderen Ländern und die Obduktionspraxis der dahingegangenen DDR gegenüber, in der ein Fall wie jüngst in Sebnitz schwerlich unaufgeklärt geblieben wäre. Während in der DDR z. B. alle Verstorbenen unter 16 Jahren generell obduziert wurden und die Obduktionsrate - auch infolge der inzwischen ersatzlos abgeschafften Verwaltungssektion - insgesamt bei bis zu 40 Prozent der Verstorbenen lag, wird in der Bundesrepublik eher sporadisch oder zufällig, ja, wie es oft genug scheint: widerwillig eine fachgerechte Obduktion vorgenommen. Hat der Arzt, der die Leiche nach den Bestattungsgesetzen vollständig entkleidet, von eventuellen Verbänden befreit, gründlich zu untersuchen hätte und dies nur in den seltensten Fällen tut, sich einmal für einen „natürlichen“ Tod entschieden, ist die Leichensache abgeschlossen. Kreuzt er dagegen auf dem Totenschein den „nicht natürlichen“ oder den „nicht geklärten“ Tod an, müßte die Kriminalpolizei tätig werden. Es sei denn, die Beamten verspüren dazu nicht die rechte Lust oder es handelt sich um einen Todesfall in Schleswig-Holstein, wo die Rubrik Todesart nicht „aufgeklärt“ seit dem 1. Juli 1999 endgültig abgeschafft worden ist, nachdem die Polizei in diesen Fällen schon seit 1990 nicht mehr eingeschaltet werden mußte. „Gute Nachricht für schlaue Mörder“, kommentiert Sabine Rückert die geradezu unfaßbare Lässigkeit deutscher Politiker, die das zu verantworten haben. Ihr Plädoyer für eine Reform des Leichenwesens in Deutschland gipfelt in zwei Minimalforderungen, die in einem zivilisierten Staat eigentlich eine Selbstverständlichkeit darstellen sollten:
- Nur speziell ausgebildete Ärzte dürfen den Totenschein ausstellen.
- Es muß bei allen unklaren Todesumständen obduziert werden.
Ich bin gespannt, wie viele Jahrzehnte diese Reform auf sich warten läßt. Sabine Rückert hat recht: Tote haben keine Lobby. Nur im Krimi wird weiterhin beinahe jeder Mord aufgeklärt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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