Eine Rezension von Irene Knoll

Hoffnung geben, ohne zu lügen

Stephan Tanneberger:
Es wird einen wunderschönen Frühling geben
verlag am park, Berlin 1998, 224 S.

Wie so viele „Arzt-Romane“ berichtet auch dieses Buch vom Kampf des Mediziners gegen Krankheit und Tod. Der Feind heißt Krebs, und der Autor des Buches erzählt Schicksale von Menschen, die ihm ausgeliefert sind, von unheilbar Kranken. Die Patienten, die er aufsucht, leben in Albanien, in Indien, in Italien, bis auf wenige Ausnahmen sind es Menschen, die keinen Arzt und keine Behandlung bezahlen können, die der furchtbaren Krankheit ganz und gar hilflos gegenüberstehen. Ihr Leid zu lindern, wo möglich zu helfen, Schmerzen zu nehmen und ein wenig Hoffnung zu vermitteln auf ein Sterben in Würde ist das zutiefst humane Anliegen einer in Italien ins Leben gerufenen Gesellschaft, die sich die häusliche Betreuung und Versorgung unheilbar Kranker zur Aufgabe gemacht hat. Ihr Programm - Homehospital - fordert von Ärzten und Schwestern, die darin mitwirken, ein Höchstmaß von persönlichem Einsatz und von Nächstenliebe, die erst den hohen Einsatz ermöglicht und hilft, das Leid der Betroffenen mitzutragen.

Stephan Tanneberger hat sich 1990 der Homehospital-Bewegung angeschlossen, er hat in ihr eine Aufgabe gesucht und gefunden, in der er sein umfängliches theoretisches Wissen und seine praktischen Erfahrungen im Umgang mit der Krankheit helfend und tröstend anwenden konnte. Professor Tanneberger war Direktor des Zentralinstituts für Krebsforschung der Akademie der Wissenschaften und Leiter des nationalen Krebsforschungs- und Krebsbekämpfungsprogramms in der DDR. Nach 1989 gab es für diesen Spezialisten, wie für 70 000 andere DDR-Wissenschaftler im vereinten Deutschland, keinen Platz mehr.

Tannenbergs Berichte sind weniger Fallberichte, es sind Erzählungen von Menschen, denen er begegnet ist, und von den Spuren, die diese Begegnungen in ihm hinterlassen haben. Er erlebt diese Zusammentreffen mit den Kranken in den Elendsvierteln oftmals als Bereicherung seines Muts und seiner Menschenkenntnis. Er vermag, Menschen zu sehen. Mit einem feinen Gespür für seelische Vorgänge in solcher extremen Situation entdeckt er in zunächst befremdlichen Verhaltensweisen von Angehörigen oftmals berührende Zeugnisse von Liebe und Treue, von Verantwortung für die Leidenden, so wenn eine Frau ihren Haushalt verkommen läßt, weil sie Tag und Nacht bei ihrem Mann liegen will, der diese Nähe braucht. Und Tanneberger kann mit tiefer Freude bewundern. Er sieht Schönheit, die Schönheit der Menschen wie die der einfachen Dinge. Vielleicht deutet er gelegentlich etwas zuviel hinein, ab und an glaubt man, es bei diesem Wissenschaftler mit einem Romantiker zu tun zu haben, aber das steigert nur das Interesse an dem, der hier erzählt und sich darin selbst so offen zeigt. Er berichtet mit Achtung von der Entschlossenheit einer älteren Schwester, die die kleinere zur Operation begleitet und bei ihr bleibt, damit sie in ihrer Angst in ein vertrautes Augenpaar sehen kann. Er sieht Heldentum in der Pflege, die drei Brüder, einfachste Menschen im ärmsten Teil von Napoli, dem vierten angedeihen lassen, damit er bis zu seiner letzten Stunde bei ihnen sein kann. Das ist eines der Anliegen von Homehospital, den tödlich Kranken das Sterben zu Hause, in der vertrauen Umgebung und bei den Angehörigen zu ermöglichen und ihre Betreuung so zu organisieren, daß sie ohne Qualen die letzten Wochen erleben können. Dennoch sieht sich der Arzt immer wieder mit den bangen Fragen konfrontiert, dem Widerstand gegen das doch Unvermeidliche. Er will Hoffnung geben, ohne zu lügen, will und muss ihr Vertrauen gewinnen. Viele hätten vielleicht bei rechtzeitiger Behandlung gerettet werden können, aber Arztbesuche und Medikamente können nicht bezahlt werden. Noch immer muss, wer arm ist, eher sterben. Die Betreuung durch Homehospital ist kostenlos. In gewisser Weise ist Homehospital auch ein Exempel für eine breitere Anwendung. Trotz des großen Aufwands an Mobilität für Ärzte und Schwestern ist bereits erwiesen, daß die Betreuung nicht teurer, eher billiger ist als die übliche Behandlung in Krankenhäusern.

Tanneberger reflektiert die ewige und immer neue Frage von Leben und Sterben ganz unmittelbar praktisch aus dem Erleben intensiver Zuwendung, die die Kranken von ihren Angehörigen erfahren. Und da steht der Respekt vor dem Sterbenden obenan, und so eine Antwort wie „Leben ist nie sinnlos“ mag einem verzweifelnden Angehörigen vielleicht ein Strohhalm sein.

In seine Betrachtungen fließen Eindrücke von Landschaften, von Städten, die Geschichte der Orte, die Gepflogenheiten ihrer Bewohner ein. Fragen zu den aktuellen politischen Entwicklungen an seinen Aufenthaltsorten drängen sich auf, wie etwa angesichts der chaotischen Situation in Albanien zu Beginn der 90er Jahre oder des Elends von Millionen Menschen in Neu Delhi. Erinnerungen an frühere Besuche in diesen Ländern sind ihm Anlaß für Reflexionen über die verschiedenen Formen von Macht- und Gewaltentwicklung.

Tannebergers Buch ist das Buch eines politischen Menschen, eines Menschen, der empfindlich ist für die Mißstände in dieser Welt, und nicht nur, weil Krankheiten immer auch Ausdruck sozialer Ungerechtigkeiten sind, sondern aus humanistischem Protest schlechthin. Ein paar Seiten widmet er der Erinnerung an Indira Gandhi, die eine Vision hatte für ihr Land, und die ermordet wurde, weil verhindert werden sollte, daß sie Wege fände, diese neue Welt zu bauen.

Auch Tanneberger hatte ein Vision von einer besseren Welt, und er hat, wie so viele Menschen in der DDR, mit Hingabe an dieser Idee gearbeitet. Er ist, auch dank der Möglichkeiten, die ihm die Gesellschaft einräumte, zu einer international geachteten Kapazität geworden. Der Arbeit in der DDR, der engagierten Gemeinschaft mit Ärzten und Schwestern in der Berliner Robert-Rössle-Klinik, ist manche Erinnerung verbunden. Die titelgebende Geschichte erzählt von dieser gemeinsamen Arbeit für die Kranken und für das Leben. „Leben wär eine prima Alternative“, hat Maxi Wander geschrieben, die auch zu Tannebergers Patientinnen gehörte. Auch von ihr erzählt er und von Brigitte Reimann und von Laura Allende. Diese Aufzeichnungen fallen aus dem thematischen Rahmen, aber wenn man Tannebergers Buch als Auseinandersetzung liest mit dem, was ist und war, vielleicht auch als Selbstverständigung und -ermutigung, dann haben sie durchaus ihren Platz. „Sie haben mich ein bißchen mutiger und sehr viel nachdenklicher gemacht“, resümiert er seine Bekanntschaft mit diesen Frauen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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