Eine Rezension von Helmut Hirsch

„Hier wird niemand geschont“

Peter Salomon: Die Natur bei der Arbeit
Gedichte vom See.
1974-1999.
Edition Isele, Eggingen 2000, 63 S.

Der Dichter Peter Salomon lebt am Bodensee. Der See ist sein Thema. Seine Erfahrung, seine Freude, sein täglicher, ungetrübter Blick schweift zum See und darüber hinweg. Wäre „nur“ der See und sonst nichts anderes, könnte vielleicht sogar Zufriedenheit aufkommen. Doch der See hat ein Ufer, das ist reichlich besiedelt, wird zudem pausenlos von Touristen auf- und leider auch heimgesucht. Doch der See hat ein Gedächtnis. Dem ist der Dichter auf der Spur. Das ist seine Arbeit, zu jeder Jahreszeit.

Oft ist der Himmel blau über dem See, die Farben des Wassers, besonders bei Föhn: „Hellgrün, türkis, blau, schwarz, violett, dunkelgrün ... / Es hat kleine zackige Wellen. Die Kämme / glitzern ...“ Bilder dieser Art erweisen sich oft als Trugbilder. Nur wenige Zeilen weiter erfährt der Leser des Gedichtes „Das Gutachten“, daß der Dichter selbst es ist, der zu einem fragwürdigen Gutachten genötigt wurde von der Stadtverwaltung: „Sie müssen eine / kleine Reform machen und wollen wissen, wie sie / es anstellen können, daß die Umweltschützer Ruhe geben, / ohne daß die Planung geändert werden muß ...“ Lebend und zugleich gelähmt von Erinnerungen und Alpträumen geplagt, denkt der Dichter in seinem stillen Büro an „einige meiner Irrtümer, und was ich den Reformen / sagen soll. Ich schalte das Diktiergerät ein. / Das Fenster kann ruhig offen bleiben, / so still ist es draußen. Es ist ganz leicht, / sich aus der Verantwortung zu stehlen.“

Leben und Leiden am See. Die Welt ist auch hier jeden Moment anders. Aus Stille wird unversehens Lärm, aus einem verschwommenen Blick kann auch wieder ein klarer werden. Aber eines ist unwiderruflich: Der See ist keine Idylle. Die Bilder, die diesen Eindruck vermitteln, sind zufällig, meist aber pure Täuschung. Momentaufnahmen, die die Kehrseite des Unheils ins getrübte Licht rücken.

Dieser Gedichtband, das letzte Vierteljahrhundert umfassend, zeigt auch die Veränderlichkeit des Dichters selbst. Seine Schritte, seine Fahrten und Ausflüge, sein Innehalten am See, das alles hat sich verändert. Mit den Veränderungen am See. „Unsere schöne Welt“ war 1974 längst zur Lüge geworden, aber trotz „Verpestung“ gab es noch alle Jahreszeiten, „und alle / nach wie vor: ganz unterschiedlich“. Trotz Zweifel, Bedenken, Befürchtungen, die großen Katastrophen blieben aus. Und das Gedicht über die nicht mehr ganz intakte Welt gibt sich „eher ratlos“. „Aber“, wird eingeräumt, „das nützt auch nichts / wir werden uns auch an die Ratlosigkeit / gewöhnen.“

Nein, daran wird sich Peter Salomon nicht gewöhnen. Die Gedichte der nachfolgenden Jahre behalten den See (bodenloser Bodensee) streng im Auge. Verhängnisse überall, doch das Gedicht arbeitet gegen Sprüche: „Der Tag, die grelle Sau, ist ganz verschwiemelt.“ Überall Müll und Touristenschwemmen. Diese Gedichte sind keine Naturgedichte. Sie entdecken Paradoxes, sind auch nicht nur am Ort des Sees lebendig. Sie überspringen in ihren kritisch-leuchtenden Bildern und Momenten Fläche und Ufer, weil sie wissen wollen, was das ist: „Die Wirklichkeit heute.“

Bewegungen, Schritte, Fahrten, Beobachtungen, Träume, Erinnerungen. Der Blick, offenen oder geschlossenen Auges, ist immer ein anderer. Auch gibt es das noch, einen „unbeschreiblichen Herbsttag“, und manchmal glaubt das lyrische Ich „die Atmosphäre des Wassers zu spüren“. Gut hat es der Schwimmer, besonders am Morgen, er schwimmt weit hinaus: „Und mit der Zeit merkt er / wie er immer zufriedener wird.“

Das sind die seltenen Momente, wo das Ich noch im Einklang mit der Natur ist. Das Gedichte „Federsee“ macht den Riß, der durch alles geht, wunderbar sichtbar, hörbar geradezu. Auf den ersten Blick ist alles wie immer, bis das Meer der Geräusche sich meldet: „Der wohltönende Roller der Wasserralle. / Das Ticken der Himmelsziege in den nassen Streuwiesen. / Die hölzerne Schnarre des Wachtelkönigs. / Das Kullern und Zischen der balzenden Birkhähne ...“ Doch wenig später kündigt sich anderes an, „ein tiefes Quarren kommt“, und bald „zieht sich das Wasser zurück. / Hier sterben die Fische aus. / Hier singen die Vögel gereimte Gedichte.“ Ein Gedicht, das phantastisch die alltägliche Täuschung vorstellt, auch eins, das mit einer schwärzlich-pikanten Pointe schließt: „Hierher kehrt man / als Rentner zurück.“

Man spürt sie ganz unterschwellig, die Wut des Dichters. Alles ist flacher geworden im Schmerz. Lange und tief war er vergraben in seinen „krummen Gängen der Erinnerung“, er kennt auch die „Fahrt nach unten / Ins Paradies“ und den Ruf: „Zum jenseitigen Ufer -“. Das Gedicht „Mit starren Augen“ schildert den „Firlefanz“ einer Kleinstadt am See. Kasperletheater, Himmel, Sonne und Jagd nach „schicken Klamotten“. Und eine trotzige Schlußzeile: „Ich kaufe nichts. Ich habe schon alles. Ich fühle mich.“

Schlimmer als Föhn sind „all diese unsichtbaren Eigentümer“ am See. Protzige Anwohner. Über alles müßte man ein „ausführliches Gespräch“ führen. Aber wo, am See, oder hoch in den Alpen? Eines ist dem Dichter gewiß: „Das Wort Wasser / werde ich aussprechen / wie das Wort MESSER.“ Alles kann Täuschung sein. Zuerst ein „dunstiger Himmel“, dann Bilder von einem Tag, der leuchtet, Leute ins Freie zieht. Schöner Tag, wie man so sagt: „Bei manchem auch gedämpft durch Pharmaka.“ Zuletzt der Blick in die Lektüre des Nachbarn: „Beim Umblättern. Die Zeilen sind schwarze Striche.“

Alles erscheint wie im Nebel, alles wie unter Wasser. Untergang bei lebendigem Leibe. Viele Gedichte enden mit dieser plötzlichen Ruckbewegung. Alles ein kurzer Ruf, nur weg vom See. Und jedes neue, nächste Gedicht begibt sich sogleich wieder auf diesen Pfad zum See. Oder es heißt: „Komm her, See / In mein Gedicht.“ Hin- und zurück, das macht die Eigenart vieler Doppelbilder in Peter Salomons Gedichten aus. Nähe und Ferne. Täuschung und Wirklichkeit, sie sind konsequent nicht voneinander zu trennen. Da rührt immer das eine auch im andern. Weil es keine stabilen Gewißheiten mehr gibt. Selbst im Gedicht nicht. Die Landschaft als Spiegel einer spiegellosen, einer uferlosen Welt. Auch unter den Touristen, die vor dem Fenster lärmen, gibt es noch Unterschiede zu erkennen. Manchmal nur Flut, dann, eine Art Ungeheuer: Zombies, die umherwandelnden Toten, Werkzeuge eines Lebenden, der längst abgestorben ist. Was sie wollen: „Jeden Tag eine Fest, sonst spürt man nichts.“ Da rutscht dem Dichter auch schon mal ein Ruf heraus, der wie eine Kriegsmeldung klingt: „Fußgängerzone macht taub. / Kapitalismus zu Fuß! Infanterie!“

Auch der Wind ist ein Thema fürs Gedicht. Was er bringt, vor allem „Geruch/ Nach Wasser, Tang, Öl, Bratfett von Schiffen“. Oder: „Was hier so weht, möchte ich sagen.“ Freunde, die in der Landschaft besucht werden, Nahestehende aus längst vergangenen Zeiten. Gesunkene Schiffe im See, Selbstmörder, die angespült werden. Alles ist anders, als es auf den ersten Blick scheint. Und wie schildert man „die Natur bei der Arbeit“? Sonnenuntergang, Stechmücken, ein Fußweg, auf dem sich der Dichter bewegt: „Richtung Sonne. Zuhause angekommen, habe ich / Viele rote Beulen; bin ganz / zerstochen und verbrannt -.“

Peter Salomon kennt seinen Bodensee. Der See ist auch von Natur ein bißchen trügerisch, zweideutig. „Zerkrümelt wie alter Sandkuchen ... Wie ausgeblichene Blue Jeans. / Aber sein Hintern ist / Nicht sexy!“ Was tut er überhaupt?: „Nie friert er zu oder tritt / Über die Ufer. Er tut / Immer nur so -“. Deshalb die „Bitte, Leben, laufe jetzt bitte / In der verlangsamten Wiedergabe ab.“ Ein Fazit? Auch Einsamkeit war früher „schwerer und süßer“, jetzt ist alles „klar und trocken“, verschwunden ist, was gar nicht da war. Peter Salomon weiß: alles vom See „Hier wird niemand geschont.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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