Eine Rezension von Edwin Kratschmer

In Grenzen überleben

Gottfried Meinhold: Die Grenze
VDG Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar
2000, 168 S.

Immer leben wir mit Grenzen: mit Wahrnehmungs-, Sicht-, Erfahrungs- und Erkenntnisgrenzen, mit Wissens-, Leistungs-, Schmerz- und Belastungsgrenzen, mit Grenzen zwischen Mensch und Mensch, zwischen Tun und Lassen, Wollen und Können, Bleiben und Gehen. Wir werden dominiert von unserer Ich- und Lebensgrenze. Und immer drängt es uns, diese Grenzen - inklusive Herrschafts- und Landesgrenzen - zu sprengen, dem Ich-Kerker und der sich einschleichenden Lagermentalität zu entfliehen, bekommen wir eines Tages Lust auf Grenzverletzung und -überschreitung, werden wir zu Grenzgängern, Tunnelbauern, Ballonfliegern, zu Boatspeople ...

Solchen Tags also beschließt in Gottfried Meinholds Erzählung Die Grenze, geschrieben um 1970, ein Qua(l)mann, bislang unbescholtener Bürger in einem Diktaturland, graue Maus für alle Observierer, einen Ausbruch, der seine Lebensrichtung ändern soll. Er läßt alles hinter sich und macht sich mit leichtem Gepäck in wackligem Gefährt aus der Hauptstadt auf und davon, bereit, die Grenzzäune irgendwie zu überwinden und in einem Land seiner Illusion neu anzufangen. Doch muß er bald die Erfahrung machen, daß er als potentieller Grenzgänger bereits erwartet wird und daß er sich längst im Spitzelgespinst verfangen hat. Und just als sich ein Ausweg bietet und höchste Entschlußkraft vonnöten wäre, versagt sich ihm sein Körper, und alle Ausbruchsversuche scheitern, die Freiräume für Eigenbewegungen verringern sich zusehends, die Sehnsucht nach Aufbruch gerät in eine fatale Stornierung, die Möglichkeit, die Lebensrichtung zu ändern und in ein Anderland mit „weiteren Horizonten“ zu entfliehn, schrumpfen.

So bleibt Quamann Gefangener in dieser „armseligen, gottverlassenen, verworfenen Stadt“ in einem „Land der Lüge“, „viel Buchenwald rundherum“, umlauert von Mißtrauen und Verrat und in ständiger „Gefahr für Liebe und Leben, Geist und Seele“. Er bleibt gefangen im Labyrinth seines eigenen Zauderns und Zögerns. Er lernt, sich an das Absurde zu gewöhnen und innerhalb enger Grenzen zu vegetieren. Er hat allzu lange geschwiegen und sich ein- und angepaßt. Die Unentschlossenheit ist ihm zum Wesenszug geworden. So landet er gnädig im Morbus, der ihm fernere Entscheidungen abnimmt. Er läßt sich nur mehr von seinem kranken Körper dirigieren. Ideale und Wünsche verkümmern. Er akzeptiert fortan sein Gefangensein und will schließlich nur noch sein beschränktes Leben illusionslos zu Ende leben.

Die Erzählung Die Grenze erscheint nun - nach dreißig Jahren -in der vom Collegium Europaeum Jenense herausgegebenen Reihe „Gerettete Texte“. Von Meinhold, in bürgerlichem Beruf Sprach- und Sprechwissenschaftler in Jena, erschienen zu DDR-Zeiten nach z. T. jahrzehntelangen Verzögerungen mehrere Romane und Erzählungen (1982 Molt, 1984 Weltbesteigung, 1986 Kilidone,1988 Mit Rätseln Leben, 1989 Sein und Bleiben), von der offiziellen Kritik kaum wahrgenommen - eine sattsam bekannte Form gelenkter Zensurmaßnahmen.

Denn als Meinhold in den Endsechzigern zu Buche saß, war der „umfassende Aufbau des Sozialismus in der DDR“ beschlossenes Programm, die Mauer war fest geschlossen, und die Regierung West zollte dem allen Respekt; Solshenizyn durfte den Literaturnobelpreis nicht entgegennehmen; die DDR-Schriftsteller schickten von ihrem Kongreß Ergebenheitsgrüße an Ulbricht und errichteten Pranger für Biermann, Kunert und Kunze; die „neue Innerlichkeit“ galt als innerer Feind; und während Studenten West aus der Mao-Bibel skandierten, verbrannte sich Student Ost auf dem Wenzelsplatz ... Das war also die Situation, als Meinhold seine Freigänge ins „Grenz“-Skript unternahm. Und Meinhold hatte sich gerade in die Lebenszeugnisse eines Franz Kafka vertieft, dem damals staatlich als dekadent Diffamierten, und er identifizierte sich mit Kafkas Fremdsein in dessen „Schloß“-Welt und mit dessen Alptraum von einer durchwalteten Gesellschaft. Da floh Meinhold in seinen Text.

„Ich sollte gehen, aber wohin?“ schrieb er damals in sein Tagebuch, „... nachts heftiges Erbrechen.“ Oder: „Ich bin tot und erwache nur als Schreibender zum Leben.“ Und in seinen „Fragmenten zum Grauen“ ist nachzulesen: „Lange unterjocht Gewesenen nützt Befreiung nicht mehr, wenn sie sich allzu lange mit der Unterjochung abgefunden haben - für sie ist das Erlöschen die sanfteste Lösung: Das Grauen vor der Freiheit könnte sie umbringen.“ Und etwas weiter: „Nur nicht in Verdacht geraten: schon der leiseste Verdacht könnte genügen, um eine imaginäre, dennoch leibhaftig nahe Liquidationsmaschinerie in Bewegung zu setzen, nein, sie war ja ständig in Bewegung und mußte gefüttert werden, es war eine Maschinerie mit einem unheuren Sog - man brauchte die Verdächtigen, auch als Exempel, um die allgemeine Furcht vor möglicher Verdächtigung wachzuhalten: So liefen die Mechanismen von Einschüchterung und Wohlverhalten fast reibungslos.“

So hat Meinold seine „Grenz“-Erfahrungen ganz konkret angelegt, aber er hat sie zugleich auf ein Spielfeld projiziert, das sowohl streng bewachte Landesgrenze ist als auch Großmetapher für das Unvermögen, seine vielerlei eigenen Grenzen überwinden zu können. Bedingungsloser Ausbruch in die Freiheit findet bei ihm nicht statt. Wer sich allzu lange an Subordination gewöhnt hat, für den gibt es kein Entkommen mehr. Für den gilt auf perfideste Weise: Es gibt immer Gründe genug, sich gar lustvoll auf Unterwerfung einzulassen. Ein fataler Mechanismus reduziert die Ästhesie und senkt gnädig die Erträglichkeitsschwelle.

Meinholds intensive Erzählung atmet den Geist einer absurden Lagerwelt, in der Leben und Überleben nur innerhalb fester Begrenzt- und Beschränktheiten möglich ist. Sie ist ein subversiver Erfahrungsbericht und zugleich ein eindrucksvolles Erinnerungsbuch an eine Mauerwelt, die den Alltag beherrscht hat.

Außerhalb der Geschichtsschreibung hat sich im Osten Deutschlands eine spezifische „Poesie der Erinnerung“ etabliert, die nun manchen verhinderten Text ins Bewußtsein hebt. Wer darin schürft, erfährt via beredter Metapher oft wesentlich mehr über die jüngste Vergangenheit, die schon wieder Gefahr läuft, glorifiziert oder tabuisiert zu werden, als aus dem Geschichtsbuch. Meinhold ist solch ein passionierter Geschichtenerzähler, in dessen Schublade noch manches Skript auf Hebung wartet. Die Reihe „Gerettete Texte“, in der Meinholds Die Grenze als Band 3 erschienen ist, will solche Skripte heben helfen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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