Eine Rezension von Ron Winkler

Frei schreiben als erste Flucht

Ines Geipel: Das Heft
Roman.
Transit Buchverlag, Berlin 1999, 157 S.

Das Heft. Am Messer der Ort für die Hand. Schutz vor dem, was die Dinge teilt, leichte Waffe, Möglichkeit, die Dinge entfernt zu halten. Zunächst, scheinbar oder wirklich.

Das Heft jedoch, über das Ines Geipel einen Roman legt, ist anderer Art. Es ist, ganz Papier, der Boden für Schrift, für die Verschriftlichung einer Fremde. Es geht vor allem darum, die Dinge heranzuholen, sie mit dem Geist zu berühren und verstehbar zu machen. In ein Heft trägt eine Heranwachsende Erfahrungen ein, Begegnungen mit den Geschichten anderer.

Versetzt an eine streng geführte Schule, die dem Sozialismus getreue Töchter bilden soll, sucht das Mädchen, von dem erzählt wird, im Notieren von ihm abgefragten Leben eine Kontur für die neue Heimat. Die Protagonistin ist eine des Suchens. Ihr Ort ist unsicher: zunächst und scheinbar. Sie führt das Heft als einen Berichtbogen vom bisher Unbekannten. Das Fremde kommt näher und bleibt dennoch in Distanz. Die, die hier ihre Umwelt ins Heft verzeichnet, möchte Orientierung finden, will sich aber auch nicht von den Verhältnissen annektieren lassen. Sie schreibt, „damit, was geschieht, in einen Zusammenhang kommt“, in eine Ordnung, von der aus sich das System interpretieren läßt, unter Umgehung von Wunden möglichst. Der Zweck lehnt sich an eine Hoffnung: „... mag ja sein, daß mit Bestimmtheit nichts zu sagen ist, nicht wirklich etwas sichtbar wird und das Ende, bereits beschlossen, einige Meter hinter uns beginnt. Doch irgendein Muster wird sich zeigen.“

Der Raum des Romans ist abgeschieden: eine ländliche Welt am Rand der DDR. Hügelland, Wald, Grenzgebiet, die Menschen „in einer Art Entzogenheit“ lebend. Zentral darin die Schule, kaum zu umgehender Präsenzort des herrschenden Systems.

Die Protagonistin versucht es trotzdem. Ein pensionierter Lehrer, halber Freund, berichtet, daß sie „zerfleddert“ wirkte von Anfang an. Inmitten der vertrauten Raummaße ist sie eine unbekannte Größe, anscheinend unberührbar von äußerer Pflicht. Sie läuft quer über die Felder, heißt es immer wieder; in „Sturzläufen“. Man fühlt sich natürlich erinnert an Uwe Johnson, an seine Unglücksfigur Jakob Abs, der immer quer über Gleise gegangen war, anscheinend unantastbar.

Geipel führt ihre Kernfigur behutsam durch den Text. Und zunächst ist sie noch gar nicht da. Der erste Teil des triptychen Romans gehört Stimmen ohne figürliche Präsenz. Man weiß nie, wer hier eine Erklärung versucht, doch ist zu spüren, daß sich das Erzählen auf nur eine ausrichtet. Es sind Annäherungen aus anonymer Tiefe, quasi geheimnisvolle Monologe, tatsächlich Mutmaßungen. Im nachhinein deutlich erkennbar als Zeugenaussagen zum ganz unmerklichen Verschwinden einer, die sich nicht einordnen ließ in die Entindividualisierungsmaschinerie, die nicht verstummt war von kollektiver Disziplin. Zur letztlichen Flucht der Protagonistin, welche in ihren Fragen und Schritten die übliche Verwaltung der Leben störte.

Sie gilt aufgrund ihrer Sprachfähigkeit als „die Russische“. Ein Fremdpartikel im Gleichmaß des Seins, unsicher zu deuten wie eine Fata Morgana. „Sie war schmal, weiß, ungeformt, hatte etwas Verschrecktes, immer wieder trat sie in unsere Runden, versuchte zu sprechen, uns anzusprechen, und wir versuchten, sie nicht zu verstehen.“

Im Heft liegt der Ausgleich, eine parallele Wirklichkeit. Das Notierte dient als Vergleichsmuster, als Gradmesser für den Zustand, in dem sie sich befindet. Zwischen kritischer Ungläubigkeit und kraftloser Akzeptanz. Mit philosophischen Stacheln im Nacken. „Das Heft, von beiden Seiten zerfleddert, die fleckigen Deckel, drinnen die Nomenklatura einer Welt, die ich zu lesen, nach wie vor, nicht imstande bin.“

Sie hat es benutzt, sich freizuschreiben, einen Katalog zu erstellen, der mit jedem Satz den Ort entbehrlicher macht. Auf dem Boden dörflicher Einsilbigkeit und gegen die Ansprüche der Staatsmacht sammelt das Heft die Realität, um sie dann hinter sich lassen zu können.

Das aufgeblätterte Heft zeigt Gestalten abseits der Regularität. Nicht wie ein Panoptikum, eher als wehmütige Hingabe an Menschen mit verworfenen Schicksalen. Da ist die „Matroschka“ genannte Köchin, die sich zunächst mit einer wachsenden Zahl von Unterröcken von den äußeren Bewegungen abzusetzen versucht, um sich dann in ihrem Haus zu verschanzen gegen die Ausprägung des gesamten Lebens. Die leise Auflehnung muß scheitern, weil keine Widerspenstigkeit geduldet wird. So wird die „verschanzte Frau“ zur Abgeholten - wie andere aus dem Heft zu Vertriebenen werden, weil sie sich nicht einpassen ließen ins Gemeinhin der Ideologie oder eines „richtigen“ Alltags.

Ines Geipel hat kein Buch geschrieben, das sich nicht darauf beschränkt, die spezifische Gedankenwelt einer Außenstehenden und ihrer Umgebung zu observieren. Auch die leichte, angenehme Melancholie des Erzählens ist nur die Form, nicht das Wesen des Romans. Die Geschichten sind bestimmt von versuchter und praktizierter Regulierung der Menschen: wie Kafkas „Schloß“ waltet und lähmt der Staat von fern, aber wirksam. Und nutzt die Herrschsucht der Menschen aus. Über einen Lehrer steht geschrieben: „Er hat das Unzerstörte der Mädchen gesehen und es nicht aushalten können, ihre Ganzheit, mit der sie da ankamen, er konnte es nicht ertragen, wenn etwas so da ist und wächst.“ So machte er sie „für ein Leben zu Protokollantinnen“.

Der Leser ist ein Hinzugezogener, keiner, der die Materie gleich oder je ganz durchdringen kann. Die Motive „der Russischen“ bleiben ihm so vage wie ihrem Umfeld. Man sieht sich einer Sprache von oft dunklem Zeichencharakter übergeben. Es scheint, als sei das zu Beschreibende von der Erzählerin durchatmet worden; als sei das, was sich als Landschaft, Natur, Welt zeigt, intensiv Inneres gewesen, Gefühl, Ader, Herz. Ein Text ohne den Komfort erzählender Eindeutigkeit. Das fordert, aber es fasziniert. Sich zu erinnern heißt hier, mit den Bildern zu tauchen: Strömungen ausgesetzt, die sich selbst lenken. Literarische Brillanz, sensible Poetisierungen und unhektisches Sprechen erlauben es, eine überaus intensive Beziehung zu diesem Buch aufzubauen. Ines Geipel formuliert mit ihrer Protagonistin einen Körper der Sehnsucht, eine Gestalt, die nicht schuldig geworden ist. Sie hatte das Heft, das Messer hielten andere.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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