Eine Rezension von Waldtraut Lewin

Winterfrau und Sonnenfrau

Marianne Fredriksson: Inge und Mira
Roman.
Aus dem Schwedischen von Senta Kapoun.
Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M. 2000, 237 S.

Sie ist einfach unermüdlich. Schon wieder liegt uns ein neuer Roman von ihr vor. Ein Buch, das jüngste Geschichte zum Thema hat. Weltgeschichte in der Nußschale. Zwei Frauen, beide nicht mehr jung, finden sich zu einer sperrigen Freundschaft: die Schwedin Inge und die Chilenin Mira, die mit dem überlebenden Rest ihrer Familie vor Pinochet geflohen ist und hier im kalten Norden ansässig wurde.

Die Autorin in einem Vorspruch: „Meine Absicht ist es, die Anstrengungen und Bemühungen der Einwanderer aufzuzeigen, die ein neues Land mit andersartigem Lebensstil, ungewohnten Denkweisen zu dem ihren machen wollen.“ Und damit trifft sie mitten ins Zentrum unseres Jahrhundertproblems, berührt eine schmerzende Wunde. Die neuen Völkerwanderungen, die politische Vertreibung, Genozid, Hunger und Not ausgelöst haben, die Flüchtlingsströme, die sich spätestens seit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland immer wieder über den Erdball ergießen, der nagende Schmerz dessen, der seine Heimat verloren hat und fremd unter Fremden lebt - all dies thematisiert zu haben, kann man Fredriksson nicht hoch genug anrechnen. Und daß sie es nicht auf der „Königsebene“ tut, sondern sich auf das Alltägliche, das Gewöhnliche des menschlichen Zusammenlebens bezieht, bringt uns ihre Geschichte nah.

Inge, die „Winterfrau“ und Mira, die „Sonnenfrau“, begegnen sich in einer Gärtnerei und ziehen sich gegenseitig an. Sie entdecken Gemeinsames - und unendlich viel Trennendes. Ozeane liegen zwischen den Lebenserfahrungen der beiden Frauen, aber beide haben ihre vehementen Verletzungen davongetragen, und keiner von ihnen fällt es leicht, mit der anderen - oder überhaupt - darüber zu sprechen. Die allzu schnelle, allzu „vorlaute“ Annäherung der Schwedin läßt die Chilenin vereisen, die Abweisungen Miras kränken Inge immer wieder - und doch sind sie schließlich einander Hilfe und Stütze dabei, ihren Problemen ins Auge zu sehen, auch wenn sie nicht leicht zu bewältigen sind. Mira hat durch die chilenische Militärdiktatur zwei ihrer Kinder verloren. Sie ist religiös, in der Rolle der Frau traditionsgebunden, aber leidenschaftlich und sinnenfroh, und ihr Leiden, ihre Fremdheit kompensiert sie mit unbändigem Stolz. Inge wird sich erst nach und nach darüber klar, daß ihr geschiedener Mann, den sie immer noch liebt, versucht hat, ihre gemeinsamen Töchter zu mißbrauchen - und daß sie die Augen davor verschlossen hatte.

Eingebettet ist die Beziehung der beiden Frauen mit ihren Höhen und Tiefen in das Miteinander ihrer Familie, der erwachsenen Kinder, in das ganze vielfältige Geflecht des Lebens mit allen Spannungen, Anziehungspunkten, Negationen.

Die Autorin begleitet die beiden Familien über einen langen Zeitraum, erzählt episch und ruhevoll. Das Buch endet mit der Nachricht von der Verhaftung Pinochets in England und der Anklage gegen ihn. Aber es endet nicht mit Jubel über den möglichen Triumph der Gerechtigkeit. Die Chilenen glauben zu wissen, daß er in Chile nicht verurteilt wird. Die symbolische Bedeutung des Vorgangs kann sie nicht befriedigen. „Kleinlaut und verlegen“ verlassen sie an jenem Abend Inges Haus, keiner findet Worte des Trostes. Falscher Optimismus kommt nicht auf in dieser schrecklichen Welt. Die Dinge des Alltags, der Wirklichkeit zu bewältigen - das bleibt, wie beim Prediger Salomonis, das einzige Rezept, das zur Verfügung steht.

Fredriksson ist mit diesem Buch endlich einmal wieder auf der Höhe von Hannas Töchter. Das simple sprachliche und erzählerische Strickmuster, das bei weniger welthaltigen - oder allzu hochgestochenen - Themen leicht zur Trivialität verkommt, hier transportiert es epische Ruhe. Der Lakonismus der Darstellung ist nahezu notwendig bei den vielen und vor allem vielen schrecklichen Dingen, die dies Buch zu erzählen weiß. Es ist ein großer Sog der Ereignisse und der zwischenmenschlichen Beziehungen, der den Leser fesselt und der keiner stilistischen Verzierungen bedarf. Die Geschichte gipfelt in einem Orkan, der den Garten Inges und die halbe Stadt verwüstet - Tabula rasa, nach der neu angefangen werden kann, nach der sich die beiden Familien zu gemeinsamer Aktion finden.

Fremdenfeindlichkeit und Arroganz gegenüber der anderen Lebensart werden nicht ausgeklammert; sie spielen übrigens auf beiden Seiten eine Rolle. Aber über allem steht das große Bemühen, im Fremden und mit dem Fremden zu existieren, ohne sein Eigenes aufzugeben, der Kampf um gegenseitigen Respekt und ums Miteinanderleben. Schon deshalb halte ich Inge und Mira für ein wichtiges, ein hochaktuelles Buch. Nach vielerlei Mittelmaß und Verschrobenheit rahabilitiert es Fredrikssons Stellung, die sie sich in der deutschen Leserwelt durch Hannas Töchter erworben hatte - wenn es auch weniger die erzählerische Leistung ist als der entschiedene und kräftige Zugriff auf eines der großen Themen unseres Jahrhunderts.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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