Eine Rezension von Irene Knoll

Erleben mit allen fünf Sinnen

Julia Franck: Bauchlandung
DuMont Buchverlag, Köln 2000, 110 S.

Wenn ein Flugzeug beim Landeanflug das Fahrgestell nicht ausfahren kann, aber, auf dem Boden entlangschlitternd, dann doch noch zum Stehen kommt, dann war das Glück im Unglück, ein Unfall, noch keine Katastrophe. Das Leben geht weiter. Aber beinahe ...

Diese Art Spannung begleitet das Geschehen in Julia Francks Erzählungen. Dabei ist, was geschieht, absolut nicht sensationell, sondern ganz alltäglich. Mit ein, zwei Sätzen wäre jeder der hier beschriebenen Sachverhalte zur Genüge erklärt. Die Faszination entsteht ganz und gar aus dem Erleben der Erzählenden. Es sind durchweg Ich-Erzählerinnen, die Geschichten erreichen den Leser also ganz direkt von einem Gegenüber, so wie in der Erzählung „Für Sie und Ihn“ den Kellner, dem die Voyeurin das abwechslungsreiche Liebesgeschehen bei ihrem Nachbarn schildert.

Einmal spricht die Erzählerin in der Rolle der Schwester, ein anderes Mal in der der Freundin, dann aus der Erlebensperspektive eines kleinen Mädchens, oder die Enkelin erzählt vom vorgezogenen Leichenschmaus des Großvaters. Die kürzeste Geschichte ist die der unehelichen Tochter, die als nahezu erwachsenes Mädchen den Vater kennenlernt. Daß es sich bei dem Mann um den Vater und nicht um einen seltsamen Freund handelt, gibt erst der Schluß preis. Die meisten der acht Erzählungen steuern auf eine solche Pointe zu. Es scheint, als seien sie um der Pointe willen geschrieben, aber tatsächlich bildet sie immer nur einen kleinen, aber für das, was erzählt wird, unbedeutenden Kick. Er soll vielleicht die Grenzen der Autorschaft anzeigen, vielleicht die gewollte und gewußte Billigung des Eigenlebens der erzählten Personen oder Sachverhalte.

Julia Francks Personen erleben mit allen fünf Sinnen, und so, anscheinend ungefiltert und unreflektiert, fließt ihr Erleben in ihre Sprache, faszinierend und sinnlich. Es sind Geschichten von höchst sensibler Erotik, und zwar nicht nur da, wo es sich um sexuelle Phantasie handelt. Julia Francks Erzählen ist an sich lustvoll. Sie sieht, riecht, schmeckt, hört, tastet alles mit uneingeschränkter Empfindsamkeit, mit Sinnen, die noch nicht stumpf geworden sind durch Gewohnheit und Erziehung und die ihre Botschaften noch mit derselben Heftigkeit an die Empfängerin schicken, wie es jedem Menschen in der Kindheit geschehen ist. Gleichauf damit ist ihre Neugier, Neugier auf das, was eine gegebene Situation in Kopf und Seele der Erlebenden in Bewegung bringt. Und der Spaß daran, sich auf eine Situation einzulassen, sie auszukosten. Die Begegnungen bei einer Zugfahrt beispielsweise oder das Zusammentreffen mit eigentlich fremden Verwandten, um den Leichenschmaus vorzubereiten. In „Mir nichts, dir nichts“ löst der Besuch der besten Freundin, die die Erzählende gerade mit deren innigst geliebtem Freund betrogen hat, ein dauernd sich veränderndes Für und Wider von Gefühlen und Gedanken aus, das dann durch eine Pointe gewissermaßen aus der Ausweglosigkeit erlöst wird.

Und obwohl das Interesse der Autorin auf dem Innenleben ihrer Erzählerinnen ruht, kommt mit ihnen sehr genaues Milieu ins Blickfeld. Es wird kaum verbalisiert, und doch teilt sich mit, wie ihr Lebensmilieu ihr Erleben und ihre Art, es zu verarbeiten, sich selbst zu sehen, prägt. Auch die Phantasien und Träume sind daran gefesselt. In den sexuellen Träumen der Schwimmeisterin spiegelt sich die traurige Existenz eines ungeliebten, von anderen mehr oder weniger benutzten Menschenkindes.

Julia Francks Erzählerinnen könnten Freundinnen von ihr sein, sie sind einander ähnlich, sie gehören in etwa derselben Generation an und derselben sozialen Schicht. Sie leben ein eher kleines und relativ anspruchsloses Leben. Julia Francks Erzählungen vermitteln nicht den Eindruck von möglicher Perspektive, auch nicht das Begehren danach. Aber ihre Heldinnen haben sich in diesem eher bescheidenen Lebensraum eingerichtet und leben ein eigenständiges Leben, dem der Druck ehrgeiziger Maßstäbe fehlt. Der Moment ist wichtig, der gelebte Augenblick. Julia Franck ist dreißig Jahre alt. 1997 erschien ihr erster Roman Der neue Koch und 1999 der Roman Liebediener, der bei der Kritik sehr viel Aufmerksamkeit fand.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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