Eine Rezension von Gabriele Brang

Was für ein Tag!

Michael Cunningham: Die Stunden
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000, 295 S.

Was für ein Tag - denkt die erfolgreiche Verlegerin, Clarissa Vaugham, als sie Ende des zwanzigsten Jahrhunderts durch die frühsommerlichen Straßen New York Citys läuft, um Blumen für die Party zu kaufen, die sie zu Ehren ihres vom Tode gezeichneten aidskranken Freundes Richard geben will. Richard, dessen Bücher sie verlegt und der Clarissa seit ihrer gemeinsamen Studentenzeit nicht allein wegen ihres Vornamens „Mrs. Dalloway“ nennt.

Was für ein besonderer Tag - spürte Laura Brown, eine junge, glücklich verheiratete Hausfrau aus Los Angeles, die ihr zweites Kind erwartete, als sie an einem heiteren Junimorgen des Jahres 1949 ein Buch in die Hand nahm, das ihr Leben von Grund auf verändern sollte und das mit dem Satz begann: „Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen.“

Was für ein Morgen - frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand, läßt Virgina Woolf ihre Romanheldin denken, als sie im Juni 1923, von ihrem Richmonder Schreibtisch aus, Mrs. Dalloway durch Londons Straßen schickt, um sie die Blumen für eine abendliche Party selbst kaufen zu lassen.

Ein Tag im Leben dreier Frauen, aus drei verschiedenen Zeitepochen, deren Konstellation zueinander einzig und allein von der Entstehung und Existenz eines Romans geprägt ist. Cunningham, der für „Die Stunden“ den PEN/Faulkner Award und den Pulitzerpreis erhielt, gelang damit ein literarisches Aperçus, das zwar von der Grundidee her nicht neu, in diesem Falle von ihm aber dramaturgisch so geschickt wie wirkungsvoll aufgebaut wurde. Was sich jeder Leser, spätestens am profan erscheinenden und gerade deshalb unerwartet verblüffenden Schluß des Romans, eingestehen muß. Der Autor, 1952 in Cincinnati, Ohio, geboren, hat die bedeutende englische Schriftstellerin Virginia Woolf nicht nur zu einer der drei Hauptakteurinnen erkoren, sondern auch das getan, was die Autorin schon während der Entstehungsphase ihrer „Mrs. Dalloway“ verwarf. Cunningham griff deren ursprüngliche Titelidee auf, nannte seinen Roman „Die Stunden“ und ging sogar so weit, daß er Virginia Woolfs Stilelemente benutzte, bestimmte Szenen fast identisch wiedergab, ohne dabei ein billiges Plagiat zu erzeugen. Das ist eine bemerkenswerte Leistung. Wie viele Schriftsteller vor ihm, nicht zuletzt auch seine Protagonistin Woolf, will er zeigen, daß Literatur auf den einzelnen sehr wohl Wirkung haben und zu Handlungen führen kann, die das persönliche Leben beeinflussen. Zumal, wenn es sich dabei um Literatur handelt, die unser Bewußtsein anspricht. Nichts anderes hat auch Virginia Woolf in „Mrs. Dalloway“ getan. Sie schrieb einen „Bewußtseinsroman“. Es kam dabei nicht darauf an, wann ein bestimmtes Ereignis stattfand, sondern die innere Befindlichkeit der Person zu diesem Zeitpunkt - was spielt sich in ihrem Bewußtsein ab, was nimmt sie im Augenblick des Geschehens „bewußt“ wahr. Woolf folgte der klassischen Beschränkung von Joyces „Ulysses“, ist aber in der räumlich-zeitlichen Gliederung des einen Tages, den sie schildert, noch genauer. „Zeit“, von ihr im weitesten Sinne als „Zeiterlebnis“ geschildert, erinnert hier an Marcel Prousts „A la Recherche du Temps Perdu“, mit dem sich Virgina Woolf während der Entstehungsphase von „Mrs. Dalloway“ intensiv befaßte.

In Cunninghams „Stunden“ ist diese komplizierte Struktur, das mitunter geradezu selbstquälerische Eindringen in die Tiefen menschlicher Gefühls- und Gedankenwelt, nicht vorhanden. Wenn Cunningham auch viel aus „Mrs. Dalloway“ an Symbolik übernimmt, seine Figuren sind bei weitem nicht so ausgeprägt angelegt wie das Original. Sie bleiben in einer der amerikanischen Wesensart typischen Oberflächlichkeit, wirken aber nie flach. Cunningham gelingen Gefühlsschilderungen, die jeder schon einmal zu spüren vermeint hat, jedoch mit Worten nicht zu erklären vermochte (was für ein Tag!), die eigentlich auch nicht erklärbar sind. In Gedanken beginnt man nach deren Bedeutung zu suchen, versucht sie zu ergründen, aber da ist nichts - das Leben, es ist so.

„... wir plagen uns und schreiben Bücher, die die Welt nicht verändern, trotz unserer Gaben und unentwegten Bemühungen, unserer hochfliegenden Hoffnungen ... Und es gibt nur diesen einen Trost: Eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder ... weiß, daß auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer ... Weiß der Himmel, wieso wir es so lieben.“ (S. 287) Cunningham hat ein Buch über die Trivialität des Lebens geschrieben, an dessen Schluß sich zwei der drei Frauen treffen werden, nicht ahnend, daß beider Leben von der dritten geprägt wurde. Und am Ende stellt sich auch für seine Romanfiguren die Frage: Was bleibt? Eine Antwort gibt es nicht.

Ich scheue mich, „Die Stunden“ einen Bestseller zu nennen. Der Roman ist viel zu gut, um nach ein paar Monaten in Vergessenheit zu geraten. Doch warten wir es ab. Weltliteratur hat bisher jedem Zeitdiktat getrotzt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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