Eine Rezension von Friedrich Schimmel
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Der Krieg und seine Alltagsgeschichten

Heinrich Breloer (Hrsg.):
Geheime Welten
Deutsche Tagebücher aus den Jahren 1939-1947.
Mit zahlreichen Fotografien und Faksimiles.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 287 S.

Anfang der achtziger Jahre, Jahre einer erneuten intensiven Rückbesinnung, hat Heinrich Breloer in fünf Jahren „fast tausend Tagebuchschreiber ausfindig gemacht. Sicher nur die Spitze eines Eisbergs.“ In den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, noch lenkten keine schrillen Medien ab, wurde viel geschrieben. Briefe, Tagebücher. Der Herausgeber hat sich speziell für die Zeit des Nationalsozialismus interessiert; die „Hitlerdiktatur“ und wie sie sich ambivalent in den Tagebüchern der Nicht-Schriftsteller spiegelte, das war sein Thema. Breloer, Jahrgang 1942, ist als Regisseur, Autor und Herausgeber immer wieder den zumeist noch verborgenen Seiten in der Geschichte des deutschen Alltags nachgegangen. Stets wollte er mehr wissen von der Generation seiner Eltern. In welcher Verfassung sie waren in jener Zeit, wo öffentlich nicht geäußert werden durfte, was viele dachten. Wie konnte eine Figur wie Hitler die Leute verführen und für seine Zwecke gewinnen, wie wurde Widerspruch formuliert? Das alles ist in facettenreichen, teils knapp formulierten, teils ausführlichen Tagebüchern festgehalten worden. Es sind Lebens- und Überlebensgeschichten. Anschaulich und spannend, tragisch und komisch. Zwölf Tagebuchschreiber, zwölf verschiedene Welten in einer Welt, die wie die Hölle war. In jedem Winkel wurde geschrieben. Im Trommelfeuer an der Front, im Bombenhagel der Städte, in der Gefangenschaft, auf der Flucht. Alles, was der Alltag bringt, wird minutiös festgehalten. Auch Träume, Einfälle, Zeichnungen, Liebeserklärungen und Racheschwüre, das Erlebnis des großen „Zusammenbruchs“. Das Denken und Fühlen von zwölf Leuten, die mitunter seltsam zwischen Zwang und Befreiung eingekeilt erscheinen. So „unordentlich“, wie die Zeit in ihrer Hast verlief, sind auch die Tagebücher geschrieben. Was kam, was sich ereignete, worüber Angst aufkam und worauf man hoffte, alles erscheint dicht beieinander, so ungeordnet wie die Zeit selbst. Mancher der Tagebuchschreiber glaubt noch ein bißchen an den „Führer“, während der Verlauf des Krieges ihm bereits Schauder und Zweifel einjagt. Ein fünfzehnjähriger Hamburger taucht nach den Bombenangriffen unter, um sich den drohenden Flakhelferdiensten zu entziehen. Er schreibt in ländlich abgeschirmter Stelle, vergleicht die Propaganda-Nachrichten mit den Informationen der alliierten Sender. Lisa S. hingegen erlebt in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges nicht nur maßlose Zerstörung, sondern zugleich auch die Freuden ihrer ersten Liebe. Nichts ist so, wie es ist. Diese Wirklichkeit kennt oft schroffe Gegensätze. „Geheime Welten“ sind ein lebendiges Mosaik unterschiedlichster Biographien im Krieg und während der Währungsreform. Erst das Erleben vieler Menschen macht zusammengesetzt die Geschichte aus. Wenngleich dabei auch die historischen „Fakten“ ausgespart bleiben können. Tausende Momentaufnahmen (wozu auch die vielen dem Band beigegebenen Fotografien der Tagebuchschreiber gehören) ziehen den Leser in ihren Bann. Direkte Blicke in eine Zeit, die noch immer ihre Schatten wirft. Es sind Ich-Erlebnisse, wovon man nie genug erfahren kann. Mit den Worten des Herausgebers: „Es ist ein Blick von unten - dort, wo über die Kosten der Geschichte Buch geführt wird. In den ordentlichen Geschichtsbüchern ist davon nichts zu lesen. Es ist ein ,Volksvermögen‘, ein Schatz gemeinsamer Erinnerungen und Erfahrungen, der gehoben werden kann. Wir brauchen ihn.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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