Wiedergelesen von Jan Eik
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Heinz Knobloch:

Alte und neue Berliner Grabsteine
Jaron Verlag, Berlin 2000, 320 S.

Es mag makaber anmuten, einen Autor anläßlich seines 75. Geburtstages ausgerechnet mit einer Rezension eines Buches über Grabsteine zu ehren, aber ich bin sicher, daß der Jubilar Heinz Knobloch die Ehrung dennoch zu würdigen weiß. Die Alten und neuen Berliner Grabsteine sind außerdem - neben einer Neuausgabe seiner großartigen Feuilleton-Sammlung Sündenfälle von Victor Auburtin in der Aufbau-Bibliothek - das jüngste seiner Bücher, die der auf Berlin-Literatur spezialisierte Jaron Verlag in überarbeiteter und ergänzter Fassung (wieder-)aufgelegt hat. Die Berliner Grabsteine legte Knobloch 1987 zum erstenmal vor; im gleichen Jahr erschien in einer Neuauflage der Band Jüdische Friedhöfe in Berlin, an dem er mitgearbeitet hat.

„Ein Buch mit Berliner Grabsteinen ist ein Friedhof, den man einrichtet. Lauter Wahlstellen. Wen läßt man weg? Die oft Erwähnten, immer wieder Beschriebenen“, schreibt der Autor im Vorwort. Den alten Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee, an dessen Mauer Tausende täglich achtlos vorbeifahren, hat er inzwischen in seine ganz persönliche Auswahl aufgenommen. Hinter den Ziegeln verbergen sich die Gräber von Giacomo Meyerbeer und dem „Judenmajor“ Meno Burg, von Gerson Bleichröder, dem die Berliner Museen u. a. den Kopf der Nofretete verdanken, und von Max Liebermann. Und Knobloch wäre nicht der einmalige Feuilletonist, der er nun einmal ist, lieferte er nicht zu jedem der Gräber auch eine einmalige Geschichte. Selbst über den immer wieder beschriebenen (und deshalb in der ersten Ausgabe unterschlagenen) Dorotheenstädtischen Friedhof weiß er bis dahin nicht erzählte Anekdoten. Es sind die „neuen“ Toten, die ihm wichtig sind und von denen er spricht: Wieland Herzfelde, Stephan Hermlin, Jürgen Kuczynski und Wilhelmine Schirmer-Pröscher, Ost-Berlins älteste Ehrenbürgerin - sie wurde es an ihrem einhundertsten Geburtstag im Juli 1989 und erlebte nicht mehr, daß man sie von der Liste strich. Auch an anderen Stellen hat der Chronist die Toten der neunziger Jahre eingefügt: den Freund und Kollegen John Stave, Marlene, den unvergessenen Oberkantor Estrongo Nachama. Hinzugekommen sind auch der Generalpostmeister Heinrich von Stephan, Deutschlands erste Motorfliegerin Mellie Beese und die Näherin Agnes Wabnitz, die sich 1894 auf dem Friedhof der Märzgefallenen das Leben nahm, um sich der politischen Justiz zu entziehen. Als sie vier Tage später auf dem - heute als Friedhofspark restaurierten - Friedhof der Freireligiösen Gemeinde zu Berlin an der Pappelallee beigesetzt wurde, gedachte eine unübersehbare Menschenmenge ihrer mit über 700 Kränzen - 80 mehr als im März 1888 bei der Beisetzung Kaiser Wilhelms I., wie der Polizeibericht meldete.

Bei Knobloch erfährt man eine Menge über die (bis heute andauernden) Schwierigkeiten der Obrigkeit mit den revolutionären Traditionen des Volkes. Und eine Menge über die Begräbniskultur der Vergangenheit. Trauerzüge mit mehreren zehntausend Teilnehmern zogen öfter mal durch Berlin. „... es gibt heute zwar manche Verkehrsstörung“, schrieb er 1987 nicht ohne den anzüglichen Hintersinn, der in der DDR den besonderen Reiz seiner Feuilletons ausmachte, „Trauerzüge aber gehören nicht mehr dazu.“

Knobloch hat 1987 die Westberliner Friedhöfe am Halleschen Tor und an der Heerstraße nicht unterschlagen, wie es Brauch und Vorschrift war in der Hauptstadt der DDR. Und was an politisch inkorrekten Anspielungen in den Grabsteinen zu finden ist, stand sämtlich schon in der Erstausgabe. Der Glaßbrenner-Text über die Notwendigkeit von Bücherverboten ebenso wie die Bruno-Kaiser-Anekdote von 1972, in der jener auf der Heine-Feier in der Kongreßhalle am Alex ankündigte, er werde das zwölfte Kapitel aus dem Buch ,Le Grand‘ lesen: „Er machte eine Pause, sah zum Schein in das Buch in seiner Hand, sprach dann frei ins Auditorium: ,Die deutschen Zensoren ....................... Dummköpfe ...‘ “

Unverändert hat Knobloch auch das Herzstück seiner Sammlung, meinen Lieblingstext aus den alten Grabsteinen, übernommen, die Wanderung zu Fontanes Grab, ein fast vierzigseitiges Kabinettstück der Fontane-Ehrung und der hohen Kunst, den Zensoren (s. o.) mit jedem zweiten Nebensatz ein Schnippchen zu schlagen - lag doch das Grab im Schutzstreifen der Staatsgrenze. Ein Foto bedurfte der Genehmigung durch das Ministerium für Nationale Verteidigung! Denn was gab es da im nahen Hintergrund zu sehen? Den durchsichtigen Grenzzaun. Knobloch 1978 (!): „Diese kilometerlange Sperre kann ich noch näher sehen, sooft ich mit meiner S-Bahn von Pankow zur Schönhauser Allee fahre. Ich lese aber meistens. Und hier durch die Maschen gucken auf die undurchsichtige Mauer? Wozu? Die alten Frauen und Männer, die ihre Blumen gießen und die Sandumrandung harken, blicken erst recht nicht hinüber ins Jenseits. Sie haben bequemere Wege, wenn sie wollen.“

„Staatsfeindliche Hetze!“ urteilte die Militärbehörde. Erstaunlicherweise erschien die Wanderung trotzdem. Im übrigen ist Knobloch nicht nur ein Meister der geschickten Camouflage, er ist vor allem einer des - akribisch recherchierten - Details. Und ein Meister der Untertreibung: „Wir biegen in die Große Hamburger Straße. Mittlerweile kennen viele den Weg zu Mendelssohns Grab ...“ Wohl wahr. Sie kennen es, weil Knobloch ihnen den Weg gewiesen und darüber geschrieben hat. Sein Herr Moses in Berlin bleibt ein unerreichtes Berliner Geschichtsbuch. Durch Knobloch haben wir erfahren, wer Der Arme Eppstein war, Meine liebste Mathilde (nach der endlich ein Berliner Platz heißt) und Der beherzte Reviervorsteher, der den Brand der Neuen Synagoge verhinderte. Jetzt steht in den Grabsteinen, wer so mutig war, 1938 Ossietzkys Totenmaske abzunehmen. Knoblochs Feuilletons bewirken nämlich etwas: daß die Leser sich für die aufgeschriebenen Geschichten interessieren und sie vervollständigen wollen.

Der Autor hat die Beiträge über E. T. A. Hoffmann, über Adolf Glaßbrenner und den Garnisonfriedhof in der Kleinen Rosenthaler Straße überarbeitet und, wo es ihm notwendig schien, gekürzt. Neu ist das Friedhofsmuseum und der Beitrag über Berlins türkische Begräbnisplätze (seit 1798!). Und neu ist Schließlich: Unser Grab, das Knoblochsche Familiengrab auf dem Johannis-Friedhof in Dresden-Tolkwitz. Denn wie so viele, die in Berlin und für Berlin etwas geleistet haben, ist Knobloch kein gebürtiger Hauptstädter. Dort im heimatlichen Dresden „ist noch Platz. Und der ist bezahlt bis rund vierzehn Tage vor meinem hundertsten Geburtstag. Wie ich hoffe, wird rechtzeitig nachgelöst.“

Dabei weiß einer wie Knobloch es am besten: Man sollte sich nicht auf die Nachwelt verlassen. Mir und allen seinen Lesern wäre es lieber, er würde den Betrag termingemäß noch selber zahlen können. Trägt nicht eins seiner Bücher ein Motto von Goethe?

Ich habe noch die wunderlichsten Sachen vor ...
Denn da sind herrliche Sachen und so begreiflich
wie die Flachhand, wenn man sie nur gefaßt hat.

Das Buch ist 1965 im Eulenspiegel Verlag erschienen. Es heißt Pardon für Bütten und ist ein Kriminalroman. Jedenfalls beinahe. Und inzwischen so etwas wie eine bibliophile Kostbarkeit. An das Motto sollte sich der Jubilar halten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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