Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Klaus Schuhmann

„Bruder Hitler“ redivivus oder Was leistet die Satire?

Im „Lichte unsrer Erfahrung“ ist es eigentlich kaum zu glauben, daß Thomas Mann 1938 einen Aufsatz mit dem Titel „Bruder Hitler“ veröffentlichte, in dem er sich mit dem „fatalen Seelenleben“ des deutschen Diktators beschäftigte, ihm „Künstlertum“ zugestand und ihn schließlich so titulierte: „Ein Bruder ... Ein etwas unangenehmer und beschämender Bruder; er geht einem auf die Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft.“ Und er fuhr fort: „Besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß ist das Sich- wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten.“ Wohl wird Hitler im Vergleich mit Napoleon herabgestuft und zum „tristen Faulpelz, tatsächlichen Nichtkönner und ,Träumer‘ fünften Ranges“ und schließlich zum „blöden Hasser der sozialen Revolution“ gestempelt, aber unverändert wird er als ein „ästhetisches Phänomen“ betrachtet, dessen reale Handlungsmöglichkeiten derart geringschätzend verkannt werden, daß „dessen Rolle am ersten Tage eines wirklichen Krieges ausgespielt wäre“. In seinen später über BBC an die Deutschen gerichteten Ansprachen hatte der Nobelpreisträger allen Grund, das „Phänomen“ Hitler anders zu sehen und zu seinem Bedürfnis „nach ungebundener Anschauung, mit einem Wort nach Ironie“, zumindest in seinen politischen Diskursen auf Distanz zu gehen.

Thomas Mann hätte bis einige Jahre zuvor mit gutem Grund auf zwei Autoren verweisen können, die voller Haß auf Hitler und sein Regime waren, aber ihre gefürchtete Waffe - die Satire - nicht ins Feld zu führen vermochten gegen den österreichischen Gefreiten: Karl Kraus und Kurt Tucholsky. Ihnen versagte der Widerstandswille und die Sprache vor dem von Joseph Roth zum „Antichrist“ stilisierten „Führer“. Sie waren, zumindest für die Öffentlichkeit (Kraus verabschiedete sich in der 888. Ausgabe seiner „Fackel“ von seinen Lesern), sprachlos geworden.

Karl Kraus starb 1936, Tucholsky war ein Jahr zuvor aus dem Leben geschieden.

„Schlechte Zeit“ für Satire, nicht nur für Lyrik? Oder war die Zeit für Hitler-Satiren noch nicht reif?

Die Feuilletonisten der „Weltbühne“ - Kaspar Hauser und Walter Mehring - hatten zumindest schon geübt und allein schon mit den Überschriften ihrer Prosabeiträge die feingeistige Art ihres Umgangs mit dem braunen Parteiführer kundgetan. „Hitler und Goethe“ titelte Tucholsky (Kaspar Hauser) im Goethe-Jahr 1932, und Mehring nannte seinen Beitrag „Hitler Literaturgeschichtlich betrachtet“. In diesen Jahren, als Hitler nach der Septemberwahl von 1930 schon zu einer politischen Macht geworden war, hatten einige Schriftsteller den Mann der Bewegung aus der Nähe zu sehen bekommen, dort, wo er sich gleichsam zivil gab. Klaus Mann berichtet darüber: „Ich hatte wiederholt Gelegenheit, diese Physiognomie zu studieren. Einmal aus nächster Nähe, etwa eine halbe Stunde lang. Das war 1932 ... Die Carlton-Teestube in München war damals eines seiner Stammlokale ... Ich entschied mich für dieses Lokal, weil das Café Luitpold - gerade gegenüber, auf der anderen Seite der Briennerstraße - neuerdings zum Treffpunkt der SA und SS geworden war: Ein anständiger Mensch verkehrte dort nicht mehr. Der Führer, wie sich nun herausstellte, teilte meine Aversion gegen seine tapferen Mannen; auch er bevorzugte die Intimität des distinguierten ,Tea-Room‘.“ Der Sohn des Nobelpreisträgers hat nun mehr als eine halbe Stunde Zeit, Hitler zuzusehen, wie er „ein Erdbeertörtchen mit Schlagrahm“ nach dem anderen verspeiste. Und wie Thomas Mann geriet auch Klaus ins Vergleichen: Diesmal ist es Charlie Chaplin, dessen physiognomische Ähnlichkeit den Betrachter verwundert und zugleich zwingt, den echten Schauspieler vom falschen abzusetzen: „Chaplin hat Charme, Anmut, Geist, Intensität - Eigenschaften, von denen bei meinem schlagrahmschmatzenden Nachbarn durchaus nichts zu bemerken war.“ Wie sein Vater gesteht sich auch der Sohn ein, daß er Hitler zunächst nicht zutraute, wovon er in seinen Reden und Schriften schon prahlte: „Du kommst nie zur Macht, dummer Schicklgruber! Dachte ich wieder, jetzt in bester Laune ... So was kommt nie zur Macht! Ich war meiner Sache ganz sicher, da ich mich nun dem Ausgang zu bewegte. Du bist eine Niete, Schicklgruber. Bei dir langt es höchstens zum Lustmord.“ Spätestens seit dem Reichstagsbrand wußte Klaus Mann, daß er Hitler unterschätzt hatte, und mobilisierte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Sammlung“ im Ausland gegen ihn.

Anders als Klaus Mann, der von seiner Begegnung mit Hitler erst Jahre später in seinem autobiographischen Lebensbericht Der Wendepunkt erzählte, reagierten die Gedichteschreiber ganz unmittelbar auf ihr Hitler-Erlebnis, wie man es bei Walter Mehring und Franz Werfel niedergeschrieben findet. Bei der post festum im Großen Ketzerbrevier (1974) abgedruckten Fassung eines 1932 geschriebenen Gedichts wählte Mehring, den Namen Hitler im Titel meidend, die Überschrift „Porträt nach der Natur“, die er mit einer kursiv gesetzten editorisch-genealogischen Notiz beglaubigte, die es den Nachgeborenen erleichtern soll, den Porträtierten als Adolf Hitler zu identifizieren:

Niedergeschrieben in der
Halle des
Berliner HOTELS KAISERHOF
- Dezember 1932 -,
als sich dort der
ehemalige Erste-Weltkriegs-
Gefreite A. HITLER
teetrinkend aufhielt,
um vom Reichspräsidenten
Paul von Hindenburg-Beneckendorf
seine Beförderung zum Reichskanzler auszuhandeln.

Ein Schritt von mir! Tuchfühlung fast! Da steht Er!
Bum!
Aura von Waih-Geschrien - und Heil-Gezeter!
Fünf Herren! Zackig! Seele angewinkelt!
Nackenkrumm!
Zwei Falten! Mundabwärts geteilt! Verhalten!
Vom Schicksal eingeplättet!
Die rechte Schulter hängt! Krampfhaft-lässig! Stimme
knarrt: Anpfiff!
Böhmisch gefettet.
Kinn flieht! Gehacktes Bärtchen trommelt: Anpfiff!

Nachts aber träumt das!
Bodenloses öffnet sich dem Falle -
Der Wille irrt in Öden ohne Zweck
Der Traum, kraftangewandet, spreizt die Kralle:
Judas Rache!
Den Alpdruck weg!
Den Alpdruck weg!
Deutschland erwache!
Die Rechte in der Tasche! Linke mahnt! All-Deutschlands Ober-
Haupt!
Versetztes Lächeln! Ein getretner, grober
Schani, der eines dicken Juden ekles Trinkgeld klaubt -
Verfluchte Drohnen! Faust stößt vor! Der Wunder-
Attentäter!
Mittelstandsheiland!
Den Kopf im Mythos! Knöcheltief durchs Blutmeer der
Verräter
Zum Rasse-Eiland!
Hat er geträumt? Er sieht sich um! Millionen folgen!
Bumm! Da steht er!

Auf den ersten Blick nimmt sich der Schriftsteller wie ein Maler aus, der mit raschen Strichen die Umrisse eines Menschen aus nächster Nähe fixiert. Eine Karikatur soll es offenbar nicht werden. Es ist schließlich ein historischer Augenblick, dem hier beigewohnt wird, und die Aufmerksamkeit gilt fast ausschließlich dem Einen, der in der ersten Zeile als „ER“ vorgestellt wird. Was bei Klaus Mann „Physiognomie“ genannt wurde, ist hier, dem Titel verpflichtet, ganz wörtlich zu nehmen, zunächst auf das Äußre der Person bezogen, dessen Können eine eigene Sprache zu sprechen scheint, die der Augenzeuge auch in Worte faßt, die dem Gesichtssinn des Malers nachempfunden sind: „angewinkelt“, „gesteilt“, „eingeplättet“, „krampfhaft-lässig“ heißen sie. Die zusammengesetzten Nomina dagegen hat Mehring dem Gehörsinn zugeordnet, die am ehesten den worterfinderischen Eigensinn dieses Sprachkünstlers verraten. Dazu zählt auch die direkte Charakteristik der gehörten Sprechweise („Stimme/knarrt: Anpfiff!“), die am Ende dieses Textparts mit der visuellen Wahrnehmung des Porträtzeichners zusammengeführt wird in der Formulierung „Gehacktes Bärtchen trommelt: Angriff!“, wobei gehackt die Stummelform des Bartes, aber auch die darunter sich öffnende Mundhöhle meint, der eine Sprache entweicht, die durch den nominalen Anfangsreim „Anpfiff“/„Angriff“ präzise getroffen wird.

Erst danach gibt Mehring recht eigentlich zu erkennen, daß er sich mit dem äußeren Abbild aus der Sicht des Zeichners noch nicht zufriedengeben will, und richtet seinen Blick nach innen, indem er den Reichskanzler in spe träumen läßt. Jetzt kommt die eigentliche Mission Hitlers der Zeit vorauseilend zur Sprache: das Ziel der Judenvernichtung zum Heile Deutschlands. Und nun bekommt „All-Deutschlands Ober-Haupt“ auch einen soziologischen Nenner, der ihn verbal fixiert als „Mittelstandsheiland“, was sich auf „Rasse-Eiland“ sinnig reimt.

Am Ende wird aus dem Text eine Zukunftsvision, die warnender nicht verfaßt werden konnte. Der Traum wird als Wirklichkeit verifiziert: „Millionen folgen“ ihm. Lautmalend wiederholt Mehring noch einmal das Geräusch, mit dem er den Leser in die militärische Aura des Textes eingestimmt hat: „Bum“ läßt zwar den Reim „dumm“ zu, hört sich hier aber eher wie ferner Kanonendonner an, den kommenden Krieg voraussagend.

Auch im zweiten Textpart hat Mehring mit originellen Wortbildungen für Tiefenschärfe gesorgt, die das „Porträt nach der Natur“ auf den ersten Blick nicht zeigt. Hitler wird „Wunder-Attentäter“ und „Mittelstandsheiland“ genannt, und mit dem „Blutmeer der Verräter“ etabliert Mehring sogar eine Genitivmetapher, die sich heute wie eine Vorwegnahme jener Strafaktion liest, mit der 1934 der Gefolgsmann Röhm erledigt wurde.

Überfliegt man den Gesamttext am Ende noch einmal, dann hat man die Gewißheit gewonnen, daß der hier Porträtierte nicht schon von „Natur“ ein Übeltäter ist, sondern erst durch die Wortbildungen und Wortwendungen des Lyrikers dazu wird. In Mehrings prägnanter Wortwahl gewinnt der Text das satirische Format. Keine Frage: Der satirische Blick erweist sich dem bloß wahrnehmenden von Klaus Mann und dem einfühlenden seines Vaters entschieden als der Wahrheit gemäßer.

Schon wenige Monate, nachdem Walter Mehring sein Hitler-Porträt gezeichnet hatte, war es für Autoren seiner Art weder ratsam noch wünschenswert, sich mittels einer Nahaufnahme ein Bild vom nunmehrigen Reichskanzler und Parteiführer zu machen. Es genügte, ihn auf Fotografien zu sehen oder über Lautsprecher zu hören, also aus beträchtlicher Entfernung. Hatten Klaus Mann und Walter Mehring noch die Chance, Hitler nahezu als Privatperson zu beobachten, so präsentierte er sich nach seiner „Machtergreifung“ als der unangefochtene Führer von Partei und Reich vor allem als Redner vor großen öffentlichen Foren, wo ihm nun auch die von Mehring befürchteten „Millionen“ zujubelten. Man brauchte ihn gar nicht zu sehen, um sich ein Bild von ihm machen zu können, es genügte schon, ihn zu hören, wie es Franz Werfel in seinem Gedicht „Der größte Deutsche aller Zeiten“ bezeugt, geschrieben „nach seiner Rede im Berliner Sportpalast September 1938“, zu einer Zeit, als Werfel wie Mehring in Frankreich im Exil lebte. Inzwischen waren so viele Fotos des „größten Deutschen“ überall in der Welt bekannt, daß ein paar markante Striche genügten, um seinen Namen ganz und gar aussparen zu können, wie es Werfel tat:

Des Teufels Kreuz am Rocke,
Tief in der Stirn die Locke,
Das Chaplin-Bärtchen wie ein Klecks:
Das ist die Dämonie des Drecks.

Dem„Rassensumpf“ entquollen
Und früh schon giftgeschwollen,
Bringt's dieses trübe Irgendwas
Mit Ach und Krach zur Vierten Klass'.

Was bürgerlich mißraten,
Gerät zu Göttertaten.
ein niedres Nichts voll Niedertracht
Sich selbst vermillionenfacht.

Er eint die deutschen Stämme
Zum Volk der Morchelschwämme.
Zum Himmel stinkt, was er geeint.
Das deutsche Volk verdorrt, versteint.
Die Stimme gellt inbrünstig.
Viel Ohren sind ihr günstig.
Und wenn sie durch den Äther bellt,
Wird sie zum Ohrenwurz der Welt.

Wir trotzen ihrem Zeichen
Als Lebende und Leichen.
Im Innern weiß es dieser Grind,
Daß wir, daß wir die Sieger sind.

Die Welt wird Blut erbrechen.
Das Reich bezahlt die Zechen.
Dem Volk bleibt Fluch und Fron zum Lohn
Und eine Hoffnung: Davids Sohn.

Wie bei Mehring wird nach dem als Zitat erkennbaren Titel des Gedichts der Anlaß genannt, der zu dessen Entstehung führte. In beiden Fällen werden Monat und Jahr der Begegnung exakt angegeben. Und wie bei Mehring wird auch bei Werfel zwischen Begegnung und Niederschrift wenig Zeit vergangen sein. Es ist daran erkennbar, wie ihn die „Führer“-Rede unter Spannung setzte, die er nun verbal heftig abreagiert, was sich vor allem daran erkennen läßt, wie Hitler dämonisiert wird. Gleich zu Beginn wird das Zeichen seiner Bewegung mit christlicher Symbolik überwölbt und der Sportpalastredner zum Werkzeug des „Teufels“ hinaufstilisiert, dessen Widersacher in Gestalt von „Davids Sohn“ am Schluß des Textes in Szene gesetzt wird. Anders als Mehring muß Werfel aber - da er nicht Augenzeuge sein kann - in die Lebensgeschichte des Braunauers zurückgreifen, um seine Personalsatire unterfüttern zu können. Dabei verfolgt er eine leicht erkennbare Methode: die der Herabsetzung und Geringschätzung, am sinnfälligsten im dreifachen Stabreim der Zeile „Ein niedres Nichts von Niedertracht“. Aber auch Endreime wie „Irgendwas“ und „zur Vierten Klass'“, mit denen Hitler wie bei Thomas Mann als „Viertelkünstler“ eingestuft wurde, fehlen nicht. Noch griffiger ist das Mißverhältnis zwischen zweifelhafter Herkunft („bürgerlich mißraten“) und Anspruch in der Reimpaarung mit dem Nomen „Göttertaten“, die zu Mehrings „All-Deutschland“ noch die göttliche Allmacht hinzufügen. Daß diese „Göttertaten“ verheerende Folgen nach sich ziehen, hält Werfel Hitler vor, indem er sich nun selbst des Nebelwortes „Volk“ bedient und mit Verben wie „verdorren“ und „versteinen“ anschaulich macht, wohin dieser Führer sein Volk führt. Die Redeweise des Mannes mit dem „Chaplin-Bärtchen“ hat der Lyriker nicht von ungefähr mit Worten benannt, die an das Tierreich erinnern, obwohl das Wort „Äther“ dazu in scharfem Kontrast steht, weil es das Massenmedium benennt, welches ermöglicht, daß sich dieser Redner „vermillionenfacht“.

Die beiden letzten Strophen weichen von den satirisch intendierten Vorstrophen nicht allein dadurch ab, daß nun ein „Wir“ ins Spiel gebracht wird, dieses Kollektivum wird überdies auch als „Sieger“ gesehen in Kämpfen, über die die Welt seit 1939 sich keiner Täuschung mehr hingeben konnte. Wie Mehring einige Jahre zuvor weiß aber auch Werfel, wem am Ende der bevorstehenden Katastrophe „Fluch und Fron“ zum „Lohn“ gereichen werden.

Jedoch ganz gegen die Tradition satirischen Schreibens steht die aus christlichem Glauben gespeiste „Hoffnung“, die daran erinnert, daß ein Jüngstes Gericht bevorstehen könnte oder das Reich Gottes, dem sich dieser Dichter nahe wußte.

Autoren von der Art Franz Werfels (de facto war es eher Joseph Roth mit seiner Schrift „Der Antichrist“) hatte Brecht wohl vor Augen, als er in seiner als „Versuch“ deklarierten Schrift „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ seine Kollegen aufforderte, „praktikable Wahrheit herzustellen“ und sich auf jene Autoren früherer Jahrhunderte zu besinnen, die sich einer Sprache bedienten, die die Sachverhalte ungeschminkt und nüchtern und ohne jede Umschreibung beim Namen nennt (also auch auf das vom 3. Reich besetzte Wort „Volk“ verzichtet). Mit dieser Schrift stellte sich der Lyriker Brecht ganz bewußt in eine plebejisch-satirische Tradition, die weder in seinem 1930 entstandenen „Lied vom Anstreicher Hitler“ noch in seinen „Hitler-Chorälen“ (1933) in dieser Zielgerichtetheit zu sehen war. Er wurde mit seinen in den folgenden Jahren geschriebenen „Deutschen Satiren“ zu dem deutschen Exilschriftsteller, der seine anfangs ebenfalls auf die Person Hitlers zielende Kritik zur Systemkritik ausbaute und in einem weiteren „Versuch“ mit dem Titel „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ üerdies eine Kommunikations-Poetik verfaßte, wie sie kein anderer Autor vorweisen kann.

Daß Hitler für den einige Jahre um und in der „Hauptstadt der Bewegung“ beheimateten Brecht - spätestens seit dem Putsch von 1923 - kein Unbekannter mehr war, ist offenkundig. Zu einer Walter Mehring vergleichbaren Begegnung zwischen dem Richard-Wagner-Verehrer und dem Wortführer des epischen Theaters dürfte es jedoch kaum gekommen sein. Er brauchte offenbar auch nicht bis zu Hitlers Berufung ins Regierungsamt, um sich ein Bild von ihm machen zu können. Seine Titulierung als „Anstreicher“, der das deutsche Haus mit Tünche überzieht, hält bereits prototypisch fest, was in den „Hitler-Chorälen“ dann kenntnisreich und faktengrundiert gegen seine Politik der Versprechung vorgebracht wird. Vor ambivalenter Faszination durch die Person war der marxistisch argumentierende Kritiker gefeit, der Hitlers Rolle als eine aus dem kapitalistischen System erwachsende weitgehend monokausal bestimmte. Ihm genügten deshalb auch in den Jahren des Exils die Fakten, die er Radiomeldungen aus Deutschland und Zeitungsberichten entnahm, um in seinen „Kriegsfibel“-Gedichten der dreißiger Jahre den kommenden Krieg zu antizipieren und innerhalb der 1939 erschienenen „Svendborger Gedichte“ die „Deutschen Satiren“ als geschlossene Gruppe zu formieren. Das Bindewort zwischen den einzelnen Satiren heißt folglich nicht Hitler, sondern „das Regime“ bzw. „Der Führer“ oder „der Kanzler“. Weit von Werfels Schmährede auf Hitler entfernt, läßt Brecht zunächst die Befehle und Pläne des „Führers“ sprechen und berichtet davon, daß ein „Dienstzug“ gebaut werden soll, mit dem es folgende Bewandtnis hat:

Auf ausdrücklichen Befehl des Führers
Erhält der Salonzug, der für den Nürnberger Parteitag
gebaut wird
Den schlichten Namen DIENSTZUG. Das bedeutet, daß
Die in ihm fahren, indem sie fahren, dem deutschen Volk
einen Dienst erweisen.

Hier wird der „Anstreicher“ nicht mehr - wie 1930 - als Person attackiert, sondern das verbale Anstreichen selbst sprachkritisch beleuchtet und - mit der Formel „das bedeutet“ eingeleitet - als Bluff durchschaut (durch das bloße Fahren kann schwerlich einem Volk ein Dienst erwiesen werden).

Die nun folgende Beschreibung des „Dienstzuges“ und seiner herrschaftlichen Ausstattung sind für Brecht Indizien genug, daß in diesem Paradezug jene versammelt sind, die es auf das deutsche Volk abgesehen haben, und dies vor allem dort seinen Ausdruck findet, wo sie in „eigenen Klosetts, die mit Marmor ausgelegt sind“, ihre Dienstbarkeit am sinnfälligsten zeigen können:

Sie scheißen
Auf Deutschland.

Das ist wörtlich und uneigentlich zu verstehen, und es enthüllt in verbaler Vergröberung, die der auf Übertreibung zielenden Satire durchaus ansteht, was sich im Verlaufe der Kriegsjahre als unbestreitbare Wahrheit erweisen sollte. „Im Lichte unserer Erfahrung“ hat sich als zeitgemäß auch erwiesen, was Brecht im „Epilog“ seines Parabelstückes „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ dem Publikum aufträgt:

Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert -
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite