Eine Annotation von Renate Sack
Meraklis, Michalis:
Handbuch der griechischen Volkskunde
Aus dem Griechischen von Renate Sack.
Romiosini Verlag, Köln 2000, 200 S.

Es gibt kaum einen Reiseführer über Griechenland, der nicht auf die eine oder andere Art und Weise auf die unterschiedlichsten Manifestationen der so opulenten griechischen Volkskultur eingehen würde.

Traditionelle Sitten und Bräuche nehmen selbst in der modernen griechischen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert ein und werden bis heute in einem überraschend hohen Maße gepflegt. Während jedoch die üblichen Reisebücher in der Regel auf der Ebene von Klischees steckenbleiben und ständig das Bild von den immer fröhlichen und Ouzo trinkenden, ausgelassen singenden und tanzenden, familienbewußten, religionsverbundenen und nicht zuletzt patriarchalisch orientierten Hellenen wiederholen, ermöglicht das kritische Handbuch des Athener Universitätsprofessors Michalis Heraklis einen wesentlich differenzierteren Blick auf das geradezu unerschöpfliche Panorama griechischen Volksbrauchtums.

Meraklis beeindruckt vor allem durch seine Detailbesessenheit, mit der er die ureigensten Gegenstände der Volkskunde - regionale und lokale Traditionen, Volksgewohnheiten und -weisheiten, soziale Rechts- und Organisationsformen, Bekleidungsgewohnheiten etc. - abhandelt.

Seine Originalität bezieht dieses Handbuch der griechischen Volkskunde allerdings aus dem ihm zu Grunde liegenden kritischen Ansatz, der sich selbst auf die Volkskunde als wissenschaftliche Disziplin erstreckt. Seit ihrem Einzug in den universitären Lehrbetrieb muß sich die Volkskunde mit dem Vorwurf der politischen Manipulierbarkeit auseinandersetzen. Dies trifft insbesondere auf die griechische Volkskunde zu, die sich in den Dienst der Versuche zur Ausbildung eines neugriechischen Nationalbewußtseins stellte, indem sie allzu eilfertig vermeintliche Beweise für die Kontinuität des Griechentums, von der Antike bis zum neuzeitlichen Griechenland, lieferte.

Auf der anderen Seite beschränkt sich Meraklis nicht auf die bloße Beschreibung der regionalen und bisweilen sehr stark abweichenden Volksbräuche, sondern stellt explizit die Frage nach ihren Entstehungs-, insbesondere aber nach ihren Überlebensbedingungen.

Ein ganzes Kapitel widmet Meraklis etwa der eigenartigen Urbanisierung der neugriechischen Gesellschaft mit der Hauptstadt Athen als unumstrittenem Anziehungspol. Denn der Verstädterungsprozeß, der in Griechenland genauso wie in anderen europäischen Ländern ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und im Laufe der Zeit enorme Ausmaße annahm, erfaßte nicht im gleichen Maße auch die zugesiedelten Menschen aus der agrarisch strukturierten Provinz. Die 5-Millionen-Stadt Athen präsentiert sich noch heute als ein Konglomerat aus unzähligen Dörfern, wodurch selbst dort, in der griechischen Metropole schlechthin, die Tradition neben der Modernität bestehenbleiben konnte.

Die Koexistenz moderner und traditioneller Elemente ist unbestritten ein charakteristischer Aspekt der neugriechischen Realität. Meraklis' erfrischend geschriebenes Handbuch offenbart noch einiges mehr. Auf seine Lektüre sollte daher niemand verzichten, der hinter die gängigen Stereotypen auf das reale, widersprüchliche Griechenland schauen möchte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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