Eine Rezension von Ursula Reinhold

Wiederentdeckte Novelle als Zeitbild

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jens Brüning.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 191 S.

Erst seit 1977 sind Bücher der Gabriele Tergit (1894-1982) neu verlegt und damit eine Autorin der Vergessenheit entrissen worden, die in den zwanziger und dreißiger Jahre als Journalistin und Schriftstellerin einen Namen hatte. Der Herausgeber legt mit der vorliegenden Novelle im Verlag Das Neue Berlin nach dem 1999 erschienenen Band mit Gerichtsreportagen unter dem Titel Wer schießt aus Liebe? jetzt einen zweiten Band der Tergit vor. Die Novelle Der erste Zug nach Berlin ist ein aus dem Nachlaß ermittelter Text, den der Herausgeber mit Nachwort und ausführlicher bio-bibliographischer Zeittafel zu einem schönen und informativen Band verarbeitet hat.

Gabriele Tergit begann mit Feuilletons und Gerichtsreportagen in der „Vossischen Zeitung“, für „Berliner Tageblatt“ und im „Berliner Börsen Courier“ und schrieb ab 1928 auch politische Beiträge für die „Weltbühne“. In dem satirischen Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931; 1988 Wiederauflage) erzählt sie vom Aufstieg eines Komikers und schildert zugleich das Ende der Kreditkonjunktur aus der Perspektive von Journalisten. Nach einem SA-Überfall verläßt sie im März 1933 mit ihrem jüdischen Partner Berlin und flüchtet zunächst in die Tschechoslowakei. 1935-1938 lebt das Paar in Palästina und siedelt 1938 nach London über, wo die Autorin bis zu ihrem Tode lebt. Sie verfaßt auch in dieser Zeit journalistische Arbeiten, publiziert im „Prager Tageblatt“, in „Deutsche Zeitung Bohemia“ und in der in Paris erscheinenden Zeitung „Das neue Tagebuch“ sowie in „Die Zeitung“ (London). Nach dem Krieg arbeitet sie für „Tagesspiegel“ und für „Die neue Zeitung“. 1951 gelingt es ihr, den im Exil entstandenen Roman Effingers, an dem sie seit 1935 schrieb, in Hamburg im Verlag Hammerichs & Lesser zu veröffentlichen. Es ist der Roman einer Berliner jüdischen Familie, an deren Generationsschicksalen die historisch-politische Entwicklung Deutschlands dargestellt wird. Danach veröffentlicht sie u. a. kulturgeschichtlich orientierte Sachbücher über Blumen. Von 1957-1981, kurz vor ihrem Tode, arbeitet sie als Sekretär des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (Sitz London), vormals Deutscher Exil-PEN.

Sie besucht nach dem Krieg mehrmals das zerstörte Deutschland, erstmalig 1948 und wird dabei zu ihrer Novelle Der erste Zug nach Berlin angeregt. Die genaue Entstehungszeit des aus dem Nachlaß herausgegebenen Textes läßt sich nicht rekonstruieren. Der Herausgeber datiert sie auf die Zeit um 1953.

Erzählt wird vom Berlin-Besuch einer jungen amerikanischen Journalistin, die, naiv und verwöhnt, in die Wirrnisse der Nachkriegszeit und des deutschen Alltags unter den Bedingungen alliierter Hoheit gerät. Sofort mit dem ersten Satz, der lautet: „Es war purer Zufall, daß ich nach Deutschland kam“, wird der lakonische Ton des Erzählens und die naive Haltung der Beobachterin angeschlagen. Sie trifft Russen und Engländer, beobachtet ihre amerikanischen Kollegen, Deutsche verschiedener politischer Couleur. Sie verstrickt sich in amouröse Abenteuer, verliebt sich in einen deutschen Journalisten, der sich als echter Herrenmensch entpuppt, fühlt sich zu neuem Glauben an grundlegende seelische Erneuerung berufen und heiratet in New York schließlich den attraktiven Gouverneurssohn, der ihr schon lange vor Augen stand. Aus der naiv-distanzierenden Sicht dieser jungen Frau erzählt die Autorin von Begegnungen mit unbelehrbaren Deutschen, mit Mitläufern und Kommunisten und stellt zugleich die von eigenen Interessen bestimmten Bemühungen der westlichen und der östlichen Alliierten dar, eine Presse aufzubauen, die ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Die satirische Darstellung trifft sowohl die mentale und politische Befindlichkeit der Deutschen, deren Nationalismus, Überheblichkeit und Einsichtsunfähigkeit mit bitterer Ironie vorgeführt wird. Mit satirischem Abstand stellt die Autorin auch die von eigenen Interessen bestimmten Praktiken der Russen und der westlichen Alliierten dar. Der Roman ist in einer durchgehenden Rollenprosa geschrieben, es ist ein Dialogroman, der die Ansichten der verschiedenen Protagonisten der Zeit mit historischer Authentizität zur Sprache bringt. So, wenn von Freiheit und Idealismus, Erneuerung, Nationalismus, Demokratie und Unfreiheit geredet wird. Der Roman wird so zu einem Dokument des damaligen Zeitgeistes, den er mit ironischem Abstand und bitterem Humor auffächert. Er ist von tiefem kulturkritischem Pessimismus geprägt, den die Autorin zugleich ironisch bricht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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