Eine Rezension von Waldtraut Lewin

Der alte Mann und die Krankheit

Mordecai Richler: Wie Barney es sieht
Mit Fußnoten und einem Nachwort von Michael Panofsky.
Aus dem Englischen von Annette Grube.
Carl Hanser, München 2000, 475 S.

Einer nach dem anderen nehmen sie Abschied, diese höchst fehlbaren, höchst unmanierlichen, höchst sympathischen alten Hurenböcke, Sünder, Schwindler und Gauner des nordamerikanischen Kontinents. Geradezu manisch schaffen die großen Romanciers von jenseits des Atlantiks Figuren, in denen sie die schlechtesten Züge ihrer selbst auffangen - und machen sie trotzdem zu menschlich faszinierenden Charakteren. Oder gerade darum. Von Saul Bellows Herzog über John Updikes Rabbit in Ruhe führt ein grade Weg zu Philip Roths Sabbaths Theater und nun weiter zu Wie Barney es sieht von dem Kanadier Mordecai Richler. All diese alten, rechthaberischen Schurken mit ihren Macken und Krankheiten, ihren sexuellen Obsessionen und unverfrorenen Ansprüchen ans Leben sind von ihren mehr oder weniger gleichaltrigen Schöpfern liebevoll und gnadenlos zugleich porträtiert (ob sie wohl manchmal in den Spiegel geschaut haben?). Der - zumindest anfangs - mit Abstand komischste ist Barney Panofsky, alter Jude aus Montreal, der sich hier bemüßigt fühlt, seine „Lebenserinnerungen“ vorzulegen, von seinen Lieblingsfeinden und -freunden, seinen drei Ehen, seinen unzähligen Fauxpas und Grobheiten, seinem ungeheuerlichen Maltwhisky- und Zigarrenkonsum, den Eishockeyidolen seiner Zeit und dem (möglicherweise oder doch nicht?) Mord an seinem besten Kumpel daherzuschwadronieren. Barneys krause, pointierte und aberwitzig komische Autobiographie erhält einen zusätzlichen Zug von Groteske durch die peinlich pedantischen Fußnoten seines Sohnes Michael, der als Herausgeber angehalten ist, Irrtümer und Verwechslungen seines Vaters zu korrigieren. Das fängt ab Seite zwei an und erinnert manchmal an Radio-Jerewan-Witze: „Im Prinzip ja. Aber ...“ - und dann ist alles anders. Denn Barney Panofsky springt höchst großzügig mit Zeiten, Orten und Personennamen um. Der düstere Hintergrund dieser Eigenart wird uns ganz allmählich beigebracht und kommt uns zunächst sehr amüsant entgegen. Wie heißt gleich wieder das Ding, durch das man Spaghetti abseiht? Und welches Stück ist das „von dem Rumänen, Sie wissen schon, wen ich meine. Er schrieb ein Stück, in dem sich Zero Mostel in einen Elefanten verwandelt.“ (Brav korrigiert Sohn Michael in der Fußnote.) Ja, der von unbändiger Lebenslust, ordinärem Witz und egoistischer Grobheit geradezu berstende Barney hat es nicht nur mit dem Herzen und der Prostata. Er hat Alzheimer.

Der Weg in die völlige Verdüsterung, wie er dann im Nachwort des Sohnes geschildert wird, läßt uns das Lachen auf den Lippen gefrieren. Zusammen mit der Erklärung des „Doch-nicht-Mordes“ an Freund Boogi, einer Erkenntnis, die aber nicht mehr in die Umnachtung Barneys vordringen kann, legt dieser Schluß gleichsam einen Ring der Beklemmung um die ganze, zuerst so amüsante, so farbig und erheiternde Lektüre. Gleichzeitig macht das Buch die Fragwürdigkeit des Gedächtnisses überhaupt, des Erzählens als realistischer Kategorie deutlich. Denn Barneys Version, wie das Buch im Original heißt, Barneys Sicht auf die Dinge wird immer wieder gekontert aus dem Blickwinkel anderer Personen, gleich ob Freund oder Feind. War er für seinen besten Kumpel bloß ein Lakai, der ihm zudem den Drogenkonsum bezahlte, rannte sein Erzfeind Terry ihm hinterher oder drängte er, Barney, sich ihm auf, ist Sohn Mike wirklich der ignorante Geldmensch und Krümelkacker, wie ihn sein Vater gern sehen möchte? Bei alledem wird deutlich, daß dieser Barney in all seiner großkotzigen Flegelhaftigkeit, inmitten seiner mehr als fiesen Geschäfte voller Liebe und Hingabebereitschaft ist - für seine Familie, seine Angestellten, für Menschen um ihn herum, die es gar nicht verdienen.

Die „wahre Geschichte seines vergeudeten Lebens“ will er erzählen. Es ist merkwürdig, aber wenn wir in verlassen, haben wir ihn liebgewonnen. Zu danken ist dies der Kunst Mordecai Richlers. Mehr solcher Bücher würden uns guttun.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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