Eine Rezension von Christel Berger

Authentische Familienschicksale

Elisabeth Marum-Lunau: Auf der Flucht in Frankreich
Der Briefwechsel einer deutschen Familie im Exil 1939-1942.
Ausgewählt und kommentiert von Jacques Grandjonc, für die deutsche
Ausgabe übersetzt und erweitert von Doris Obschernitzki.
Verlag Hentrich & Hentrich, Teetz 2000, 197 S.

Die geistige und moralische Leitfigur dieser Familie war der Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum - Jurist, Sozialdemokrat und nach nazistischem Rassengesetz Jude, der bereits im März 1934 im Konzentrationslager Kislau umgebracht wurde. Dessen Frau Johanna und seine drei Kinder Elisabeth, Hans und Brigitte sowie deren Partner Heinz, Sophie und Peter befanden sich 1939 - unterschiedlich situiert - im Exil in Frankreich. Wie alle Exilierten traf sie der Kriegsausbruch, das heiß konkret erst einmal die Aufforderung an die männlichen „Staatsangehörigen des deutschen Reiches“ (auch wenn sie ausgebürgert waren!), sich in Sammelstellen zu begeben. Später wurde das auch auf die Frauen erweitert. Was folgte, waren Internierung, Untersuchung der einzelnen Fälle, Trennung von Familien und Partnern, plötzliches Sichfinden in irgendeinem der großen Lager, wieder Trennung und immer verzweifeltere Versuche, dem Lager oder den eingerückten Deutschen zu entgehen. In der Familie Marum gelang einem Teil die Flucht nach Amerika bzw. Mexiko, während die jüngste Tochter Brigitte und deren Freund Peter Holländer umkamen. Zählt man zum Kreis der Familie auch Geschwister und deren Ehepaare sowie die Eltern und Kinder, kommt man auf 50 Personen. 20 von ihnen wurden Opfer nazistischer Rassenpolitik. Nur vier von fünfzig haben die Jahre von 1939-1945 „vor Ort“ überlebt. Deutsche Schicksale - man hat ja Feuchtwanger und Einschlägiges gelesen.

Wie es jedoch wirklich war, was im einzelnen gedacht, gehofft, getan wurde, was es zu essen gab und wie die Bedingungen in den Lagern und gar für die Ausreise waren, erfährt man so authentisch wie noch nie aus dieser Dokumentation der Briefe der sieben Familienmitglieder. Eine aufregende Lektüre, vergleichbar etwa dem Eindruck, den Klemperers Tagebücher hinterließen. Obwohl wir daran Interessierten durch Romane, Erzählungen sowie historische Recherchen zu wissen glaubten, wie es damals war, setzte erst der Tagebuchbericht den Punkt auf das i! So auch hier: Kein Exil-Roman - auch nicht das von mir hochgeschätzte Transit der Seghers - kann das ersetzen, was diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Briefe an Details und Exilerlebnissen sowie Gefühl für Zeit und Lage zutage befördern. Die Freude über eine Dusche oder die Sorge um neue Schuhe. Die Zurückhaltung, der Liebsten die Wahrheit über das eigene Ergehen zu sagen. Die Gerüchte. Die Stimmungen. Dabei ist diese Familie ein Glücksfall, was Differenziertheit und Charaktervielfalt betrifft. So unterscheidet sich das Schicksal der kommunistischen Familie des Sohnes Hans erheblich von dem seiner Schwester Elisabeth. Wieder ganz anders die beinahe sorglose, noch sehr junge Brigitte! Und selbst in dieser Zeit und Situation wurden Babys geboren, und deren Eltern haben sich gefreut! Fast unvorstellbar und doch nicht erfunden!

Elisabeth Marum-Lunau (1998 in New York verstorben) hat die Briefe in jahrelanger Arbeit gesammelt, gehütet, zuletzt unterstützt von ihrer Schwägerin Sophie Marum. Beide fanden in dem französischen Exilforscher Jacques Grandjonc und in Doris Obschernitzki hervorragende Sachwalter. Etwa ein Zehntel aller erhaltenen Schriftstücke ergeben dieses nun auch in Deutschland erschienene Buch (Erstausgabe in französischer Sprache: Boches ici, Juifs la-bas. Edisuded Aix-en-Provence 1997), vorzüglich kommentiert, liebevoll und sachkundig zusammengestellt von den Herausgebern.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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