Eine Rezension von Thomas Przybilka

Kidnapping

Dennis Lehane: Kein Kinderspiel
Ullstein-Taschenbuch-Verlag, München 2000, 524 S.

James Grippando: Die Entführung
ders., München 2000, 500 S.

Laut Statistik der Kinderhilfsorganisation werden jährlich mehr als 820 000 Kinder in den USA als vermißt gemeldet, rechnerisch also ca. 2 300 vermißte Kinder pro Tag! Eine große Anzahl dieser Kinder wurde von einem Elternteil entführt, nicht wenige sind Ausreißer. Die meisten dieser Kinder werden mehr oder weniger schnell wieder aufgefunden. Aber ungefähr 300 der vermißten oder entführten Kinder bleiben für immer verschwunden. Verkauft, mißbraucht, als Sklaven von Pädophilen gehalten, getötet - niemand weiß es. Kindesentführung, Kindesmißbrauch - nicht erst seit Andrew Vachss ein (brisantes) Thema der Kriminalliteratur.

Kein Kinderspiel wird es für eines der sympathischsten Ermittlerpaare der zeitgenössischen (amerikanischen) Kriminalliteratur Patrick „Pat“ Kenzie und Angela „Angie“ Gennaro aus Boston. Beide erhalten den Auftrag, ein verschwundenes vierjähriges Mädchen wiederzufinden. Lange tappen beide im dunkeln, und ihre Ermittlungsarbeit gestaltet sich anfänglichst äußerst zäh. Niemand hat etwas gesehen, niemand hat etwas gehört, niemand hat etwas bemerkt. Auch nachdem sie mit zwei Spezialisten einer Sondereinheit der Bostoner Polizei für Kindesentführung zusammenarbeiten, laufen viele eventuelle Fährten ins Ausweglose. Daß aber noch viel mehr als eine Kindesentführung hinter ihrem neuen und verzwickten Fall steckt, wird den beiden schlagartig klar, als es bei der endlich zustande gekommenen Geldübergabe gleich mehrere Tote gibt. Ein Hinweis auf perverse Pädophile verdichtet sich, bleibt aber eigenartigerweise stets verschwommen. Kenzie und Gennaro merken bald am eigenen Leibe, daß in den Reihen der Sonderermittler der Bostoner Spezialeinheit der eine oder andere Beamte seine eigene Suppe kocht und die beiden nicht nur von einer erfolgversprechenden Fährte abbringen, sondern mit allen Mitteln versuchen will, die Privatdetektive aus dem Weg zu räumen. Es scheint, daß dieser undurchsichtige Fall gleichzeitig der schwierigste und gefährlichste Ermittlungsauftrag in ihrer bisher blendenden Karriere wird.

Um verschwundene Kinder geht es auch bei James Grippando. Allison Leahy, Justizministerin der USA und erfolgreiche liberale Politikerin, steht voll im Wahlkampf um die Präsidentschaft. Ihr Mitbewerber und Konkurrent für das hohe Amt ist der schwarze General Lincoln Howe, ein erzkonservativer und hochdekorierter Militär. Während der letzten Tage, und damit in der heißen Phase des Wahlkampfes, wird Kristen Howe, uneheliches Enkelkind seiner Tochter Tanya Howe, entführt. Schnell schon stellt sich die Frage, ob nicht General Howe oder dessen Wahlkampfmannschaft mit dieser Entführung etwas zu tun haben. Howes Popularitätskurve ist bei den Wählern dramatisch nach unten gerutscht, und die Entführung könnte ihn durch einen gewissen Mitleidsbonus wieder auf die Zielgerade bringen. Für Allison Leahy dagegen ist diese Entführung geradezu ein Déjà-vu- Erlebnis. Ihre Adoptivtochter Emily wurde vor acht Jahren als Baby direkt aus ihrem Bettchen gestohlen und wurde trotz aller Anstrengungen der Ermittlungsbehörden nicht gefunden. Es scheint Parallelen in beiden Entführungsfällen zu geben. Dies jedenfalls meint das der Justizministerin Allison Leahy unterstellte FBI. Die Agenten der Bundesbehörden arbeiten nicht nur mit Hochdruck am aktuellen Entführungsfall, sondern rollen gleichzeitig auch den Entführungsfall Emily Leahy auf.

Kein Kinderspiel von Dennis Lehane und Die Entführung von James Grippando sind zwei ungemein spannend und bestens geplottete Thriller. Beide sind übrigens fast zeitgleich, als Taschenbücher, im Ullstein Verlag erschienen. Lehanes Kein Kinderspiel stand viele Wochen auf den Krimi-Bestsellerlisten in den USA, und James Grippando hat mit Die Entführung wieder einmal bewiesen, daß er zu der Spitze amerikanischer Thrillerautoren gehört.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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