Eine Rezension von Hans-Rainer John

Geschichte einer jungen Leidenschaft

Fattaneh Haj Seyed Javadi:
Der Morgen der Trunkenheit
Roman.
Aus dem Persischen von Susanne Baghestani.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 2000, 416 S.

Man sagt gemeinhin, Bücher wären Freunde des Menschen, aber auch wer viel liest, stößt selten auf Romane, mit denen er sich rundum anfreunden kann und die er am Ende mit Bedauern aus der Hand legt und ein kleines bißchen vereinsamt zurückbleibt. Voraussetzung ist wohl, daß der Autor sehr realistisch erzählt, daß er tief in die Psyche der Figuren eindringt und daß er über eine poetische Sprache verfügt. Hier ist ein solches Buch, mit dem man sich wohl fühlen kann, das man am Ende nur zögernd und ungern zuschlägt. Die Handlung fließt wie selbstverständlich, nämlich glaubhaft und überzeugend, es gibt keine unlösbaren Widersprüche, keine offenen Fragen oder mühsamen Konstruktionen, die Menschen werden uns mit allen ihren Gedanken und Gefühlen ganz vertraut, und sie haben selten nur gute oder nur schlechte Seiten, die Welt des Islam öffnet sich uns mit ihren Traditionen, Gerüchen, Farben und Klängen geradezu sinnlich, und die Sprache (ein Lob der adäquaten Übersetzung!) fließt mühelos dahin. Das ist wahrhaft große Literatur, und bedauerlich ist einzig, daß man über die Autorin nur erfährt, daß sie 1945 in Schiraz geboren wurde, heute in Isfahan lebt und daß dieser Roman 1995 veröffentlicht wurde und im Iran zum größten Bestseller der letzten Jahre geworden ist.

Teheran, Gegenwart. Sudabeh ist jung, schön und gebildet, aber unerfahren, sorglos und verwöhnt. Sie will heiraten, aber der Mann ihrer Wahl findet die Zustimmung der Eltern nicht. Es handle sich zwar um einen Mann mit gutem Aussehen, aber um einen Nichtsnutz, den Sohn einer ungebildeten, neureichen Familie, die durch Zufall ein kleines Vermögen angehäuft hätte. Man kann sich mit der kampflustigen, selbstbewußten Tochter nicht einigen. Da wird das 80jährige Tantchen Mahbube herbeizitiert, die sich einst auch nicht herrschenden Zwängen beugen wollte und ihre eigene Wahl durchgesetzt hatte. Deren Lebensbeichte, etwa 1930 einsetzend, als sie 15 Jahre alt war, macht den Roman aus.

Aus einer wohlhabenden, gebildeten und weithin angesehenen Familie stammend, sollte sie in diesem Alter verheiratet werden. Glänzende Möglichkeiten standen ihr offen, der Sohn einer Prinzessin und Mansur, ihr wohlgestalteter Cousin, der höchst verliebt in sie war, hielten um ihre Hand an, aber sie hatte sich in den Schreinerlehrling Rahim verguckt, mit dem sie kaum ein paar Worte wechseln konnte, dessen Lockenpracht, breite Brust und starke Arme sie jedoch verwirrten. Sie setzte die Heirat gegen alle Ratschläge der liberalen Eltern durch, erhielt ein kleines Häuschen, monatliches Kostgeld, durfte aber das Elternhaus nicht mehr betreten. Sehr bald erschreckten sie die Unterschiede in Lebensweise und Herzensbildung. Ärmlichkeit und grobe Umgangsformen waren ihr bisher fremd. Rahim warf bald alle beschworenen Vorsätze, sich um einen angesehenen und auskömmlichen Beruf zu bemühen, über Bord, zehrte von ihrem Geld, und nachdem die erste Sinnlichkeit vertobt war, entwickelte er sich, unterstützt von seiner Mutter, die Unfrieden säte, zum launischen Haustyrannen, der anderen Frauen nachstieg, sich betrank, Mahbube verprügelte. Die Geburt des Sohnes Almass brachte nur vorübergehend Besserung, da ließ Mahbube aus Angst vor weiteren Niederkünften eine Abtreibung vornehmen. Unsachgemäß ausgeführt, hatte sie dauernde Unfruchtbarkeit zur Folge. Als Almass Opfer eines Unfalls wurde, floh Mahbube in Vaterhaus zurück, setzte die Scheidung durch. Am Ende gelangt sie doch noch in die Arme von Mansur, aber als Nebenfrau, denn der Cousin war längst verheiratet. Den Mann, den sie nun zu lieben begann, mit einer anderen teilen zu müssen und ihm keine Kinder schenken zu können, wurde zur Qual eines Lebens, das sie ertragen lernen mußte.

„Ich bin zu einem warnenden Beispiel geworden“, wendet sie sich zum Schluß an Sudabeh. „Du ähnelst mir. Ich möchte, daß du weißt, der nächtliche Wein ist nicht den Morgen der Trunkenheit wert.“ Dieses persische Sprichwort, aus dem auch der Buchtitel schöpft, ist wortgetreu, aber mißverständlich übersetzt. Gemeint ist, daß die Nacht der Trunkenheit nicht den Morgen der Ernüchterung wert ist. Der zeitgenössische Rahmen verweist auf die Aktualität der alten Geschichte. Dadurch, daß der alte und der neue Fall nicht deckungsgleich sind (Sudabehs Favorit leidet keineswegs unter Geldmangel), vermeidet die Autorin den Anschein, sie wolle begüterte Menschen als gebildet und taktvoll armen Menschen gegenüberstellen, die dumm und gefühlsroh sind. „Weder bist du ein fünfzehnjähriges Mädchen, noch ist er ein Schreinerlehrling“, unterstreicht Mahbube die Unterschiede. „Aber in gewisser Weise unterschieden sich auch eure Welten voneinander. Wenn das so ist, wenn zwei Menschen nicht zueinander passen, gleich in welcher Art und Weise, kann das ihr Leben zerstören. Es gibt doch nicht nur eine Sorte Unglück!“

Anfangs erwartet man eine Frontstellung einer neuen, selbständige Entscheidung einfordernden Generation gegen die starre Tradition und ein Elternhaus, das die Töchter durch Drohungen und Prügel zur vorbestimmten Eheschließung zwingt. In beiden Fällen sind hier aber die Eltern ihren Töchtern voller Liebe und Verständnis zugewandt, sie huldigen liberalen Gedanken, bringen lediglich ihre größere Lebenserfahrung ins Spiel. Man kann trotzdem nicht behaupten, daß die Autorin ausweicht oder beschönigt, obwohl wir in den islamischen Ländern viele Beispiele solcher Konfrontation kennen. Es ist wohl so, daß sie ihre These eher zuspitzt, indem sie die Geschichten sich in aufgeklärtem und verständnisvollem Umfeld entwickeln läßt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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