Eine Rezension von Helmut Hirsch
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Rückkehr ins Vergangene

Jürgen Becker: Aus der Geschichte der Trennungen
Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 337 S.

Dieser Roman setzt die Erzählung Der fehlende Rest fort, mit der der Lyriker Jürgen Becker 1997 sich auch als vorzüglicher Prosaist vorstellte. Hier wie dort gibt es, dem Lyrischen sehr nahe, die Doppelfigur des Lebens in einer Person. Das Ich, das aus der Gegenwart heraus lebt und Vergangenheit erinnert. Jörn, der Junge, sozusagen das vergangene Ich im fortlebenden Ich. Daraus entsteht Spannung, läßt sich die verflossene Zeit herbeirufen, kann man sich dem Strom der Bilder jetzt und damals nahezu beliebig anvertrauen. Die Erinnerung des Erzählers ist überaus detailreich und intensiv. Schon ein Blick, ein Geruch, ein Wort, ein Ortsschild führen geschwind zurück an die Orte der Kindheit. In der Erzählung Der fehlende Rest erfuhr der Leser, daß es „bleibende“ Grunderfahrungen gibt, die bei Jörn und dem erzählend-erinnernden Ich „Gefühle hinterlassen, die er noch in fernsten Gegenden, plötzlich, anfallweise, als Heimweh empfand“.

Im Roman Aus der Geschichte der Trennungen ist es wieder diese nuancenreiche Eigenart des Verwobenseins zwischen Kind und Erzähler. Vergangenes kehrt nicht „zu meinem augenblicklichen Ich, sondern zu dem Jungen zurück“. Hier kommt noch eine neue historische Erfahrung hinzu, die inzwischen auch Vergangenheit geworden ist: der Fall der Mauer, das Ende von der Trennung des Landes. Die Reise in den Osten holt acht Kindheitsjahre zurück, die Jörn während des Weltkrieges und kurze Zeit danach in Erfurt verlebt hat. Dabei ist der Ort, an dem diese Erinnerungen wieder hervortreten, oft ein anderer als der Ort des einstigen Erlebens. Es gibt Umgebungen, Landschaften, Töne, die entscheidend sind, um den Strom der einstigen Erlebnisse in Gang zu setzen. Ein Ort im Niederen Fläming, wo auch noch der Odem der DDR lebt, zugleich aber „Altes“ in der Luft liegt, das an Krieg und Nachkrieg erinnert. Da ist plötzlich alles wieder ganz nah: die tägliche „Verdunkelung“, der Gang in den Keller während des Luftalarms, die Kondensstreifen der Bomberverbände über der Stadt. Auf einem Flugplatz sieht der Erzähler eine Sportmaschine auffliegen, schon läuft der Film des Wiedererkennens. Die Bilder geraten in Bewegung, und es gibt einen „Sog, der Sehnsucht heißt“.

Dies ist ein stiller Roman. Obwohl doch soviel geschieht. An Geschehenes erinnert wird. Der Erzähler, Jahrzehnte im Rheinland lebend, kommt nach Ostdeutschland, kehrt zurück in „Umgebungen, in Landschaften und Städte“, von denen er so lange Zeit getrennt gelebt hatte. Trennungen, die ihr Ende gefunden haben. „Jetzt, jetzt ist der Krieg aus“, ruft ein kleiner Mann aus Thüringen in der Menge, die in der Novembernacht 1989 in den Westen drängt. Das traf die Empfindungen des Erzählers. Der in diesem Moment zugleich auch weiß, daß er älter geworden ist, verschiedene Zeitalter durchlebt hat: „Es war für mich der Satz der Stunde, der Epoche, und auf einmal war sie vorbei.“

Feine Schnitte durchziehen diesen Text. Einmal ist Jörn gerade sieben, und es beginnt der Krieg, dessen Vorbereitungen er unmittelbar miterlebt. Dann öffnet sich die Mauer, und der Erzähler sieht Trennendes und Einendes und wieder Trennendes. Der Aufschwung Ost zerstört Jörns Erinnerungen schon wieder, doch er versetzt sich für einige Tage in einen hypnotisch-erregenden Zustand, ist ganz im Vorkriegs-Damals. In der Uniform des Pimpfs, der weiß, daß man damit in der Schule etwas ausrichten kann bei den Lehrern, weil man in einer schützenden Haut steckt, „die ihn vor der Willkür der Erwachsenen zu bewahren schien“.

Das sich pausenlos erinnernde Ich ist auch ein Unruhe-Ich. Sitzt es beim Bier in einer ostdeutschen Stadt, sieht es sogleich die Bilder der Mobilmachung, erlebt den Einzug der Amerikaner in Erfurt, die ganz andere Art des Erscheinens der Russen am selben Ort. Was ist Zeit? Und wie schnell oder wie langsam vergeht sie. Die acht Kinderjahre in Erfurt kommen dem Erzähler vor „wie eine unendliche, stehengebliebene Epoche. Was alles geschehen konnte, es geschah.“ Die Faszination der Technik im Krieg, Uniformen noch und noch. In den alten Gassen zum Domplatz in Erfurt sah Jörn „so viele Uniformen“ durchziehen, daß das Nacheinander „wie ein Traum sich zu einem verwirrenden Bild der Gleichzeitigkeit zusammenschob“. Das alles empfindet er als ein „gespensterhaftes Echo, dieses Geräusch, das wir waren“.

Die Geschichte der Trennungen erzählt von Fronten und Grenzen, von Alltag und Spiel im Zweiten Weltkrieg. Es sind sehr atmosphärische Bilder, die Jürgen Becker aufleuchten läßt. Tischmanieren und Mode in vergangenen Zeiten, Schlangen über Schlangen. Immer war etwas knapp und wurde doch etwas verteilt. Seltsam fern und nah ist die Vergangenheit. Damals „lief alles wie normal, richtig ordentlich, ganz ähnlich dem Getrage und Geschiebe auf den Parkplätzen vor dem Eingang in den Selbstbedienungsmarkt, Jahrzehnte später“.

Erfahrungen hier und dort. Krieg und Frieden, Ost und West. Die Zeiten ändern sich, das Erinnerte wird später immer anders sein. Denn die Zeit hat sich geändert! Mit den Worten des Erzählers: „Die Kinder, die jetzt geboren werden zwischen Oder und Rhein, in vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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