Eine Rezension von Kathrin Chod

Der Sirius-Standpunkt

Paul Virilio: Ereignislandschaft
Aus dem Französischen von Bernd Wilczek.
Carl Hanser, München 1998, 168 S.

„Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt läuft die Zeit; wir laufen mit.“ Das mag zu Wilhelm Buschs Zeiten ja noch angegangen sein, heutzutage sollten wir das aber lieber bleibenlassen. Wir sollten anhalten, Abstand nehmen und beobachten - meint jedenfalls Paul Virilio.

Die Zeit, vor allem die Geschwindigkeit, das ist das Thema des französischen Architekten, Schriftstellers, Philosophen und Kulturkritikers Paul Virilio. Für ihn ist nicht die industrielle Revolution die entscheidende Umwälzung der Neuzeit, sondern die Revolution der Geschwindigkeit. Die Essays im vorliegenden Buch stammen aus der Zeit von 1984 bis 1996 und behandeln vor allem die Auswirkungen dieser Revolution der Geschwindigkeit auf unsere Wahrnehmung. Gott sieht alles, was passiert, und alles, was passiert, sieht er nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Für Virilio ist dieser Blick das Gegenbild zur heutigen Informationsgesellschaft. Ein Gegenbild, das sich nicht den modernen Medien völlig verschließt, sondern sie nutzt. Denn das, was man als den Blick Gottes auf die Welt ansieht, ist heute das Auge der Kameras, die - auf Satelliten installiert - mit Abstand die Erde umkreisen. Nur dieser Abstand, den auch der Beobachter einnehmen muß, ermöglicht es, das zu erfassen, was sonst im Informationszeitalter aus dem Blickfeld gerät. So auch die scheinbar kleinen Ereignisse und Erscheinungen mit weitreichenden Folgen, denen die Essays im vorliegenden Buch gewidmet sind und die nach Meinung von Virilio aus dem Blickfeld geraten sind, sei es, weil sie unbemerkt blieben oder weil sie absichtlich unterdrückt wurden. So schreibt er in „Die große Dunkelheit“ über eine Technokultur, in der es einerseits für die Beteiligten niemals Nacht wird und durch die andererseits die Großstädte des Nachts zu einem rechtsfreien Raum gemacht werden. In diesem rechtsfreien Raum „ohne Verantwortlichen, Präsidenten oder Kopf“ entfaltet sich nur noch der blinde Individualismus. Für die Gesellschaft bedeutet das „ein Übergangsstadium zwischen Demokratie und kommender Tyrannei“.

Eine weitere Gefahr für die Demokratie stellt Virilio in „Der Staatsstreich der Medien“ angesichts des Wahlsieges des Medienmoguls Berlusconi in Italien dar. Einen Staatsstreich, der interessanterweise erst möglich wurde durch eine Antikorruptionskampagne gegen die seinerzeit etablierten politischen Parteien Italiens. Seine Einschätzung dürfte so auch nicht nur für Italien von Belang sein: „Wenn schon nicht unter dem Einfluß eines übertriebenen Gerechtigkeitssinns, der immer zur Ungerechtigkeit führt, so doch zumindest unter dem Einfluß der viel zu vielen Prozesse ... haben sich die italienischen Wähler mit geschlossenen Augen in den Abgrund gestürzt, den ein Medienzar geöffnet hatte und der damit eine neue Form des Machtwechsels schuf, der sich jetzt nicht mehr zwischen der parlamentarischen Linken und Rechten vollzieht, sondern zwischen Politik und den Medien.“ Wie diese Medien im Krieg wirken, untersucht Virilio anhand des Golfkrieges in Das Ungleichgewicht des Schreckens (1993). Nach dem Zeitalter von Zensur und Propaganda sieht er mit diesem Krieg die Zeit der strategischen Desinformation und der Meinungsmanipulation angebrochen. Gleichsam die Berichterstattung über den Kosovokrieg vorwegnehmend, meint Virilio: „Es steht außer Frage, daß der kleine Bildschirm nun ... noch viele unangenehme Überraschungen und so manche optische Täuschung ,politischer Art‘ für uns bereithält.“

Es ist keine leichte Lektüre, die Virilio bietet. Aber eine Lektüre, die sich lohnt, zeigt sie doch, daß es neben dem Ausgeliefertsein gegenüber Informationsflut, Desinformation und Kurzsichtigkeit des Medienzeitalters oder aber einer totalen Verweigerungshaltung - dem optischen Atheismus - einen dritten Weg geben kann, „den ,Sirius-Standpunkt‘ einnehmen, d. h. Abstand halten und sich entfernen“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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