Eine Rezension von Eberhard Fromm

Wohin gehst du, Demokratie?

Mark Mazower: Der dunkle Kontinent
Europa im 20. Jahrhundert.
Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 640 S.

Dem Londoner Geschichtsprofessor Mark Mazower (Jg. 1958) geht es in seinem umfänglichen historischen Überblick über die politische Geschichte im 20. Jahrhundert um zwei Komplexe: Einmal ist und bleibt sein Untersuchungsfeld Europa, zum anderen steht im Mittelpunkt des Interesses die Frage nach den Wegen und Irrwegen, Siegen und Niederlagen, Aufschwüngen und Krisen der Demokratie auf dem europäischen Kontinent.

Diese Konzentration hat natürlich Konsequenzen. So bleiben die weltpolitischen Entwicklungen, die ja entscheidend auf die europäische Geschichte gewirkt haben, zwar nicht außen vor, sie werden aber nur in ihren Auswirkungen behandelt, nicht in ihr Eigenständigkeit. Und innerhalb Europas gewinnen nur jene Prozesse an Bedeutung, die mit der Demokratieproblematik verknüpft sind; alle anderen Bereiche bleiben am Rande.

Es ist also keine umfängliche Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie etwa der britische Kollege Eric Hobsbawm (Das Zeitalter der Extreme) vorgelegt hat. Auf ihn bezieht sich Mazower allerdings, wenn er den unterschiedlichen Ansatz betont. Hobsbawm habe sich auf den Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus konzentriert und dabei die Bedeutung des Faschismus als eine Form des Kapitalismus heruntergespielt. Für Mazower stellt dagegen „das Dritte Reich die ernsthafteste Bedrohung für die liberale Demokratie dar“. In seiner eigenen Sicht ist die Frage nach dem europäischen Wertesystem das zentrale Thema seines Buches, denn: „Europas zwanzigstes Jahrhundert ist die Geschichte ihres Konflikts.“

Neben dem Vorwort und einem Epilog behandeln elf etwa gleichstarke Kapitel die verschiedenen Zeitetappen und Problemkreise der europäischen Geschichte. Dabei gibt es Abschnitte, die mehr oder weniger streng chronologisch vorgehen (wie etwa „Hitlers Neue Ordnung, 1938-1945“; „Ein brutaler Frieden, 1943-1949“ oder „Demokratie im Wandel: Westeuropa, 1950-1975“), aber auch Abschnitte, die ein Problem quer durch die Zeit verfolgen (wie zum Beispiel „Aufstieg und Fall der Demokratie“; „Die Krise des Kapitalismus“). Damit gelingt es dem Autor, bestimmte Trends über einen längeren Zeitraum darzustellen und somit Kontiunität und Diskontinuität der Entwicklung zu verdeutlichen.

Besondere Aufmerksamkeit wird dem Faschismus und dabei vor allem dem NS-Regime in Deutschland gewidmet. Wie der Autor betont, sei das Dritte Reich keineswegs eine Anomalie der europäischen Entwicklung gewesen. Vielmehr zeigt er an Ideologien, politischen Theorien und Praktiken, wie Nationalismus, Rassismus, gewaltsame Lösung von Minderheitsfragen usw. eine lange Tradition besaßen. Bei der Darstellung von Hitlers Neuer Ordnung spricht er sogar von einer „verpaßten Gelegenheit des Führers“ und meint, daß die Nationalsozialisten 1940 die Chance selbst verspielt hätten, Europa tatsächlich zu beherrschen, was ja wohl bedeutet, daß die diese Chance tatsächlich besessen hätten.

Die Sichtweise von Mazower führt den Leser immer wieder zu Einsichten oder auch nur Feststellungen, die zum Nach- und Weiterdenken provozieren, nicht selten auch zum Widerspruch. So nennt der Autor den Zweiten Weltkrieg den „Höhepunkt einer fast hundertjährigen Geschichte gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Mächten“ und versteht ihn als Konflikt, der zwar vor allem von Hitler begonnen wurde, der aber auch ein Rassenkrieg, ein Religionskrieg, ein Klassenkrieg und ein Bürgerkrieg gewesen sei.

Nachdenklich wird man, wenn man den Überlegungen nachgeht, die im Zusammenhang mit den etwa 46 Millionen Flüchtlingen zwischen 1939 und 1948 angestellt werden und die die Dramatik dieser gewaltigen Bevölkerungsbewegungen mit ihren sozialen und politischen Verwerfungen zeigen. In dem Kapitel „Der Aufbau der Volksdemokratie“, wo von einer realen sozialen Revolution gesprochen wird, vertritt der Autor die Meinung, daß die kommunistischen Parteien mit ihrer massiven und beschleunigten Durchsetzung der Industrialisierung und der damit verbundenen Herausbildung einer starken neuen Arbeitrklasse selbst jene Kräfte geschaffen haben, die dann nach neuen Lösungen drängten: „Die Industrialisierung führte zu einem gesellschaftlichen Wandel, wie ihn die Partei nicht vorhergesehen hatte: Die Gesellschaft stürmte voran, und die Partei hinkte hinterher.“

Im Epilog „Das Werden Europas“ wird ein wenig resignierend festgestellt, daß der wirkliche Gewinner der Veränderungen seit 1989 nicht die Demokratie, sondern der Kapitalismus sei. Der Autor plädiert dafür, daß die Europäer eine bescheidenere Stellung in der Welt akzeptieren und erkennen, daß man sich jedoch heute in Europa trotz allem einer bemerkenswerten Kombination von individueller Freiheit, gesellschaftlicher Solidarität und Frieden erfreut.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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