Eine Rezension von Walter Unze

Der Aufstieg vor dem Absturz

Otto Friedrich: Morgen ist Weltuntergang
Berlin in den zwanziger Jahren.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1998, 420 S.

Das Buch des amerikanischen Schriftstellers und Journalisten Otto Friedrich (1929-1995) über Berlin erschien zum erstenmal bereits vor knapp dreißig Jahren, 1972 in den USA, 1973 in Deutschland. Trotzdem hat es nichts von seinem Reiz verloren. Friedrich schreibt als „Grenzgänger“ zwischen Geschichtswissenschaft und Journalismus: „Vom Historiker hat er den Respekt vor Fakten und Folgen, vom Journalisten den Mut zur Verknappung, zur provokanten Verkürzung.“

Der Autor baut seine 17 Kapitel chronologisch auf. Nach einem Prolog, in dem erläutert wird, daß und warum die zwanziger Jahre zu einem Mythos wurden, wird von 1918 bis 1933 jedem Jahr ein Kapitel gewidmet. Das Buch wurde nicht unter dem Aspekt eines zeitgenössischen Beobachters geschrieben, sondern aus der Sicht vieler Zeitzeugen und der Interpretation des Autors. So entsteht ein vieldeutiges Bild der Zeit und der Stadt. Friedrich nutzt Sachbücher, Erinnerungen und Autobiographien, Romane und anderes Material, das er ausführlich - im Text immer deutlich kursiv - zitiert. Von besonderem Interesse sind dabei die Aussagen noch lebender Zeitzeugen, die um 1933 aus Berlin emigrierten und in den siebziger Jahren in den USA lebten. Ihre spezifische Sicht auf die zwanziger Jahre, gepaart mit dem Wissen, was danach kam, bestimmt viele Positionen. Man wird als Leser schrittweise - von Jahr zu Jahr deutlicher - zum Höhepunkt dieser Zeit und zum jähen Absturz geführt.

Diesen Effekt erzielt der Autor auch dadurch, daß er sich bemüht, alle Bereiche des städtischen Lebens und die übergreifende politische Entwicklung miteinander zu verbinden. So stehen die bewaffneten Kämpfe in den ersten Monaten des Jahres 1919 neben der Tätigkeit Albert Einsteins, die Inflation neben dem musikalischen Leben, politische Auseinandersetzungen neben dem Filmschaffen. Hinzu kommen knappe und auch ausführlichere biographische Darstellungen zu Persönlichkeiten dieser Zeit aus Politik - wie Rathenau - und Musik - wie Schönberg -, aus der Publizistik - wie Ossietzky - oder aus der Literatur - wie Brecht. Auch hier läßt der Autor meist andere sprechen. So wird z. B. das Bild der Marlene Dietrich dieser Jahre vor allem von den Erinnerungen des Regisseurs Sternberg gespeist.

Dem Autor gelingt es durch diese Darstellungsweise, ein recht lebendiges und vielschichtiges Bild dieser widersprüchlichen Zeit und der in ihr handelnden Persönlichkeiten zu zeichnen. Daß er dabei auf den exakten Nachweis seiner Quellen verzichtet, ist für die Lektüre kein Nachteil. Für eine weitere Nutzung des Buches machen sich die fehlenden Zitatbelege und ein fehlendes Personenregister als empfindlicher Mangel bemerkbar. Das wird auch nicht durch den Literaturüberblick am Ende des Buches wettgemacht.

Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von 1995 fragt Otto Friedrich aus der Erinnerung an die Vergangenheit in die Zukunft hinein: „Wer war letztlich wichtiger, und an wen wird man sich länger erinnern - an Einstein oder an Goebbels?“ In seinem Buch hält er die Erinnerung an Einstein u n d Goebbels wach!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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