Eine Rezension von Henry Jonas

Überwältigende Bilderflut

Jürgen Flimm: Vom Himmel durch die Welt zur Hölle
Bilder von Hermann und Clärchen Baus aus 15 Jahren Arbeit am
Thalia Theater unter der Leitung von Jürgen Flimm 1985-2000.
Mit einem Vorwort von Hellmuth Karasek.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000, 352 S.

Als in den alten Bundesländern die Ära der großen inszenierenden Schauspieltheater-Leiter wie Barlog, Stroux, Sellner und Gründgens zu Ende ging, rückten selbst- und zielbewußt neue innovative Kräfte wie Peter Stein und Peter Zadek, wie Claus Peymann, Dieter Dorn und Jürgen Flimm an ihre Stelle. Heute sind die Jungen von damals selbst schon weit jenseits der Sechzig, und sie haben den Zenit ihres Schaffens überschritten - Zeit also für Resümees und Rückblicke.

Flimm, geboren 1941, ist der Jüngste dieser Gruppe. Er gehört nicht nur zu den bedeutendsten Regisseuren des deutschen Gegenwartstheaters, er verstand auch als Intendant, den von ihm geleiteten Bühnen (Schauspiel Köln 1979-1985, Thalia Theater Hamburg 1985-2000) hohen Rang zu verleihen. Mußte man nicht - durch den Titel dieses Buches verleitet - Auskunft erwarten über sein Programm und die von ihm verfolgten Methoden, über seine Erfahrungen und Erlebnisse, über Irrtümer und Entwicklungen und vielleicht auch über die Gründe seines (vorzeitigen) Rückzugs - immerhin trat er freiwillig ab, während ältere Kollegen an ähnlichen Bühnen um ihre Positionen kämpften? Nicht jedem liegt es, wie Peter Zadek eine ausführliche Biographie zu Protokoll zu geben (My Way, 1998), aber Interviews, Essays und Auszüge aus beschreibenden Rezensionen der wichtigsten Inszenierungen hätten ohne Zweifel die wesentlichen Arbeitserfahrungen vermitteln, hätten Einblick in eine bedeutsame Theaterwerkstatt gewähren können. Das aber leistet dieses Buch bedauerlicherweise nicht.

Zugegeben: Es ist groß und schwer, und es enthält, drucktechnisch exzellent wiedergegeben, mehr als 700 meist vierfarbige phantastische Fotografien der 50 wichtigsten (von 150) Inszenierungen des Thalia Theaters der Jahre 1985-2000. Sie sind so sprechend, so ausdrucksvoll, so lebendig, wie es nur die besten Theaterfotografien sein können. Man ahnt die Kreativität bedeutender Regisseure, man spürt die faszinierenden Darstellerleistungen, die dahinterstehen, aber man ist angesichts des Verzichts auf jede Beschriftung und jeden Kommentar als Betrachter, der die Aufführungen nicht sah, am Nachvollziehen gehindert. Mal vermag man die einzelne Szene nicht zu entschlüsseln, mal stößt man auf ein unbekanntes Stück. Da nutzt die Fülle wundervoller Fotos nichts, am Ende ermüdet man und kapituliert vor der Bilderflut.

So sind die Fotos hier nicht Beleg, sondern quasi Selbstzweck. Die einzigen Textbeiträge des Buches sind nämlich ein zweiseitiges Vorwort, in dem Karasek die Geschichte des Thalia Theaters seit 1945 und die direktoriale Leistung Flimms in den letzten anderthalb Jahrzehnten zu umreißen sucht (das ist geschickt gemacht, aber eindeutig viel zu knapp, zumal auf die Spezifik der Regiearbeit Flimms überhaupt nicht eingegangen wird), und als Anhang eine Dokumentation (Daten, Titel, Namen). Als Erinnerungsbuch für die Besucher des Hauses, die den meisten Inszenierungen beigewohnt haben, mag das taugen. Als Auskunft über exemplarische Theaterarbeit, die Anspruch auf überterritoriale Aufmerksamkeit hat, genügt das nicht. Hier wurde leider eine Chance vertan.

Ich sage das angesichts der wundervollen Fotos der Baus mit Bedauern, aber doch entschieden, weil ich Flimm mehr Einfluß auf das deutschsprachige Theater wünschte. Flimm als Regisseur, der sich an Goethe und Schiller, Kleist und Büchner, Molière und Goldoni, Hebbel und Sophokles hoch bewährt hat, Bedeutendes aber vor allem bei Shakespeare („Hamlet“, „König Lear“, „Richard III.“, „Was ihr wollt“, „Wie es euch gefällt“) Tschechow „Platonov“, „Onkel Wanja“, „Drei Schwestern“), Ibsen („Peer Gynt“, „Wildente“) und Schnitzler („Das weite Land“) geleistet hat. Und Flimm als Theaterleiter, der Wilson und Tabori, Axer und Lievi, Peymann und Rudolph, Gosch und Langhoff, Berghaus und Lang, Tragelehn und die Thalbach neben sich arbeiten ließ und über deren Erfolge genauso glücklich sein konnte wie über eigene. Und der „eigene“ Schauspieler wie Annette Paulmann und Stefan Kurt entwickelte oder seit seiner Kölner Zeit an sich band (Hans Christian Rudolf, Hans Kremer, Sven-Eric Bechtolf, Wolf-Dieter Sprenger), der aber auch Stars wie Quadflieg und Lohner, Striebeck und Kirchner, Pleitgen und Bantzer, Buhre und Horwitz, Elisabeth Schwarz und Hildegard Schmahl heranzuziehen und einzubinden verstand. Es ging ihm wohl um ein Ensemble, das Lebendigkeit und Ausdrucksstärke mit Wahrhaftigkeit zu vereinen vermochte.

Der international am weitesten wirkende Beitrag des Thalia Theaters in diesen Jahren war Flimm übrigens nur mittelbar zu danken, Regisseur (und im eigentlichen Sinne Schöpfer) des „Black Rider“ war Bob Wilson. Hundert Aufführungen würden am Deutschen Theater in Berlin alles andere als Aufsehen erregend gelten, aber einige davon führten das Thalia nicht nur nach Berlin, Wien, Genua und Amsterdam, sondern auch nach New York und Hongkong.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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