Eine Rezension von Dorothea Körner
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Vom unsicheren Selbstgefühl der Deutschen

Philippe Delmas:
Über den nächsten Krieg mit Deutschland
Eine Streitschrift aus Frankreich.
Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet.
Propyläen Verlag, Berlin/München 2000, 224 S.

Diese furiose Schrift von Philippe Delmas (geb. 1954), der von 1991 bis 1993 Sicherheitsberater des französischen Außenministers Roland Dumas war und seitdem als Manager der französischen Airbus-Industrie für die ausländischen Beziehungen verantwortlich ist, wurde in Frankreich ein Bestseller und entfachte heftige Diskussionen.

Der Autor geht von der französischen Angst vor dem wiedervereinigten Deutschland aus, das - ob es will oder nicht - dank seiner zentralen Lage und seiner Bevölkerungszahl auf dem Weg zu einer Großmacht ist und die Europäische Union nach der Osterweiterung auf Grund seiner wirtschaftlichen Potenz beherrschen wird. „Europa wird deutsch sein“ - eine Vorstellung, die in Frankreich, wo sich das Selbstgefühl auf die politische Souveränität gründet, inakzeptabel erscheint. Zwar legen die Deutschen keinen Wert auf eine politische Führungsrolle in Europa - noch garantieren die USA das politische Gleichgewicht zwischen den europäischen Ländern -, aber das könnte in zwanzig Jahren anders sein. Delmas fragt, ob ein so potenter Staat wie der deutsche auf Dauer politisch unmündig bleiben kann. Und da die europäischen Länder der Bundesrepublik Deutschland trotz deren Verzicht auf Machtpolitik, ja eigentlich gerade wegen dieses Verzichts, politisch mißtrauen, ihr niemals die politische Führung in Europa zugestehen würden, wäre denkbar, daß sich Deutschland eines Tages von Europa emanzipiert, erneut einen Sonderweg geht und damit im europäischen Kräfteverhältnis übermächtig wird und nicht mehr zu kontrollieren ist. Der nächste europäische Krieg wäre vorprogrammiert.

Philippe Delmas analysiert in seinem Buch die deutsch-französische Geschichte seit dem frühen Mittelalter und konstatiert eine immer wiederkehrende Einmischung Frankreichs in die deutsche Politik, das Verhindern einer innerdeutschen Einigung bis zu der absoluten Verwüstung und zur Zerstückelung Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg, die das Land in der Mitte Europas über Jahrhunderte in Ohnmacht stürzte, es aber nicht bleibend auslöschen konnte. Deutschland wurde vielmehr zu einem politischen Sonderweg gezwungen, der letzten Endes zum Zweiten Weltkrieg führte. Alle Varianten der Diplomatie und des Krieges seien in eintausend Jahren durchgespielt worden, ohne zu einer stabilen politischen Lösung zwischen Frankreich und Deutschland zu führen, es bleibe nur die Möglichkeit einer politischen Allianz zwischen beiden Ländern - die Frankreich allerdings äußerst schwerfalle. Dem Autor scheint es unverzichtbar, der Währungs- und Wirtschaftsunion Europas nun die Politische Union folgen zu lassen, deren Zentrum Frankreich und Deutschland bilden müßten. Frankreich hätte also auf seine politische Souveränität zu verzichten - wie Deutschland bereits auf die D-Mark verzichtet hat, was beide Länder an den Rand einer Identitätskrise stürzt.

In seinen Kapiteln zur deutschen Geschichte untersucht Delmas die Gründe für die nationale Identitätsschwäche der Deutschen. Er geht der eintausend Jahre währenden politischen Ohnmacht Deutschlands nach, dessen Schicksal die Teilung und Zerstückelung war, das nie eine starke Zentralgewalt besaß, weil die frühmittelalterlichen deutschen Kaiser dem italienischen „Traum“ nachhingen und die Reichsstände zu mächtig werden ließen, ein Deutschland, das sich auf Grund der Reformation spaltete und danach von seinen europäischen Nachbarn - allen voran Frankreich - an einer politischen Einigung gehindert wurde. „Europa konnte sich mit der Entstehung einer politischen Identität Deutschlands nicht abfinden“, konstatiert Delmas. Und etwas später erwägt er: „Vielleicht hätte es die deutsche Frage in Europa nie gegeben, wenn Frankreich nicht ständig interveniert hätte, um Deutschland daran zu hindern, jene nationale Identität zu erlangen, die es selbst besaß.“ Auf dieses im Hegelschen Sinne tragische Schicksal der Deutschen führt er die Identitätsprobleme der Deutschen zurück, die von den Franzosen einfach nicht verstanden werden: die Definition der deutschen Nation durch Sprache und Kultur anstatt durch einen Staat, die Begründung des nationalen Selbstbewußtseins durch eine Ideologie - den deutschen Idealismus - anstatt durch Politik. Auch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den Größenwahn der deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg hält er für den Ausdruck einer Identitätskrise der Deutschen. „Frankreichs unnachgiebige Feindseligkeit, die Unmöglichkeit einer Einigung mit England und die distanzierte Haltung Rußlands“ begünstigten das paranoide Denken der Deutschen. Und der Versailler Vertrag bestätigte die „Feindseligkeit Europas, das ganz eindeutig nicht fähig war, ein geeintes Deutschland zu tolerieren“. Von daher erklären sich die hysterischen Züge der deutschen Identitätssuche im Nationalsozialismus. - Doch seit 1940 [wohl eher seit 1933 oder 1939; D. K.], betont Delmas, waren die Deutschen nicht mehr Opfer eines feindlichen Schicksals, sondern im höchsten Maße schuldig. Auschwitz wirkte wie ein Schwarzes Loch in der Astrophysik, es „verschlang“ jede weitere Identitätssuche.

Delmas ist sich nicht sicher, ob die Deutschen ihre Schuld so verinnerlicht haben, daß die Erinnerung daran ihre Politik auch weiterhin bestimmen wird. Auch westdeutsche Politiker haben immer wieder befürchtet, daß die Bundesrepublik nur eine „Schönwetterdemokratie“ sei, die an schweren Krisen zerbrechen könnte. Solche Krisen zeichnen sich heute ab: die schwierige Wiedervereinigung, die Aufnahme von insgesamt 15,6 Millionen Einwanderern aus dem Ausland, die Aushöhlung des traditionellen Sozialsystems durch eine brutale Globalisierung, der Verlust der D-Mark und die Infragestellung des deutschen Föderalsystems durch die Europäische Union. Diese Veränderungen nehmen den Westdeutschen - und nahmen den Ostdeutschen - alles, was seit 1945 ihre Identität ausmachte. Werden sie das politisch bewältigen? Die Furcht der Nachbarn ist also nicht unbegründet, zumal Frankreich vor ähnlichen existentiellen Umwälzungen steht, die den Franzosen ebenfalls Angst einflößen. Philippe Delmas vertritt die These: Wenn die Franzosen Deutschlands Suche nach Identität nicht verstehen, „wird es keinen weiteren Aufbau Europas geben, sondern vermutlich eine rapide Rückwärtsentwicklung“. Nur Frankreich kann verhindern, daß Deutschland sich künftig von Europa emanzipiert. Es habe der Bundesrepublik die Etablierung einer gemeinsamen Politik anzubieten. Die Deutschen täuschten sich, wenn sie in ihrem Engagement für Europa Erlösung von ihrer Geschichte suchten. Es sei genau umgekehrt. „Europa wird erst dann aus seiner momentanen Sackgasse herauskommen, wenn Deutschland und Frankreich in der Lage sind, eine politische Vision für Europa zu entwickeln.“ Beide Länder müßten wirklich Neues hervorbringen.

In seiner viel beachteten „Berliner Rede“ anläßlich des Berlin-Besuches von Jacques Chirac im Juni diesen Jahres schien mir Joschka Fischer in die von Delmas anvisierte Richtung vorzustoßen. Er plädierte für einen europäischen Bundesstaat mit einem Präsidenten und einer Verfassung. Die Franzosen, die sich allenfalls einen Staatenbund (Jacques Delors) vorstellen können, protestierten sofort und sahen in Fischers Vision nichts als den „Traum vom heiligen römisch-germanischen Reich“1. Der französische Außenminister Hubert Védrine hielt Fischers Vision für „falschen Wagemut“, ging aber mit ihm von einem „harten Kern“ der europäischen Staaten aus, der den europäischen Integrationsprozeß vorantreiben müsse, wozu Frankreich und Deutschland auf jeden Fall gehören werden. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schloß Védrine jedoch aus.2 - Es wird deutlich, wie unpopulär Philippe Delmas' Werben für ein Aufgeben der politischen Souveränität Frankreichs zugunsten Europas bei seinen Landsleuten ist - aber auch, wie berechtigt vermutlich. „Deutschland wird an dem Tag normal sein, an dem Frankreich dessen Vormacht akzeptieren kann, ohne darin die Vorboten eines Imperiums zu sehen. Und Frankreich wird an dem Tag aufhören, sich in seinen Grundfesten bedroht zu fühlen ..., an dem es aufhören muß, seine Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen. Die gleichzeitige Umsetzung der Politischen Union und der Währungsunion ist dringend notwendig“, schreibt der Autor.

Delmas erweist sich in seinen Ausführungen als exzellenter Kenner der deutschen Geschichte. Seine Sicht von außen könnte den Deutschen helfen, sich beispielsweise hinsichtlich des Ersten Weltkrieges nicht als die Alleinschuldigen zu sehen, die von ihnen verursachten Katastrophen historisch gerechter zu beurteilen, die Tragik ihrer Geschichte und die von ihnen zu verantwortende Schuld besser auseinanderzuhalten. Das Buch enthält faszinierende Thesen, es beschreibt ungeschminkt die akuten politischen Gefahren in Europa und sollte daher auch in diesem Land sehr aufmerksam gelesen und öffentlich diskutiert werden.





1 Vgl. den Artikel „Deutsche Dehnübungen“ in: „Der Spiegel“ vom 3. 7. 2000
2 Vgl. das Interview mit dem französischen Außenminister in: „Der Spiegel“ vom 17. 7. 2000


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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