Eine Rezension von Hans Aschenbrenner
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Erinnerungen sind ein reicher Schatz

Tegel - zurückbleiben bitte!
U-Bahn-Erinnerungen von Horst Bosetzky, Uwe Poppel und drei
ehemaligen Fahrern.
Jaron Verlag, Berlin 1999, 135 S.

Einsteigen bitte, Türen schließen!
S-Bahn-Erinnerungen von Horst Bosetzky.
ders., Berlin 1997, 125 S.

Noch jemand ohne Fahrschein?
Straßenbahn-Erinnerungen von Horst Bosetzky, Alfred Gottwaldt und
einem Mann an der Kurbel.
ders., Berlin 1997, 111 S.

Nach Straßenbahn- und S-Bahn-Erinnerungen nun auch U-Bahn-Erinnerungen von Horst Bosetzky, sämtlich im Jaron Verlag erschienen. Drei Bücher, die im Kern Berliner Nahverkehrsmittel zum Gegenstand haben, vom Verfasser spannender Kriminalliteratur und zeitgeschichtlicher Familienromane mit stark autobiographischem Hintergrund. Wie paßt das eigentlich zusammen? Was wohl mag ihn zu diesem Unterfangen bewogen haben?

Dies plausibel zu machen, will der Autor, wie jeweils das Vorwort belegt (gleichzeitig auch Beispiele gekonnter Eigenwerbung), seinen Lesern natürlich nicht schuldig bleiben. Und so bekennt er zunächst einmal, in diese Verkehrsmittel, ihre kleinen Schwächen inbegriffen, regelrecht vernarrt zu sein, was bis in die frühe Kindheit zurückreicht. Die Vernarrtheit zu erklären, droht den Nicht-Autofahrer aus Passion sogar in so etwas wie „Verlegenheit“ zu bringen. Da hatte er sich doch in der Einleitung zum Straßenbahn-Buch weit aus dem Fenster gelehnt und geschwärmt, eine alte Straßenbahn sei wie eine Geliebte für ihn. Wie danach die „Beziehung“ zur S-Bahn erklären, wo doch jede Fahrt mit ihr ein ungemein großer Lustgewinn für ihn ist? Ein Dreh ist schnell gefunden, um beiden gerecht zu werden: „Warum kann man nicht zwei Geliebte haben? Unser Verkehr ist eben von besonderer Natur und läßt dies zu.“ Für das Bekenntnis zur U-Bahn ist spezieller Einfallsreichtum vonnöten, denn sie hat nun einmal den Nachteil, daß, guckt man aus dem Fenster, nicht viel zu sehen ist. „So simpel diese Erkenntnis sein mag, so entscheidend ist sie für die Wertung dieses Verkehrsmittels im Vergleich mit Straßenbahn, S-Bahn und Bus. Aber dieses Nicht-aus-dem-Fenster-sehen-Können kann auch seine Vorteile haben ...“ - und schon ist der Autor wieder ganz in seinem Element.

„Erinnerndes Erzählen“ hat Horst Bosetzky seine in den drei Büchern praktizierte Arbeitsmethode genannt. „Spurensicherung“ ist ein anderer dafür von ihm gebrauchter Begriff. Genau darum geht es ihm. Die Bücher laden geradezu ein zum Mitfahren, zur Teilnahme an Fahrten durch gut ein halbes Jahrhundert Berliner Alltagsgeschichte, die eigene Biographie eingeschlossen. Für die Rohentwürfe hat er auf Band gesprochen und in den Computer getippt, was ihm im Gedächtnis geblieben bzw. als Notizen vorhanden war. Es bedeutete gewiß ein Riesenstück Arbeit, beim Balanceakt zwischen Unterhaltung und Sachinformationen am Ende nicht gar abzustürzen. Kombinationssicher, nie um Einfälle und Argumente verlegen und schreibgewandt, ist ihm der Spagat aber dann doch gelungen.

Die Bücher sind voll von Selbsterlebtem, von genau Beobachtetem. Sie sind voller Erinnerungen an Kindheit und Jugend, Elternhaus, verwandtschaftliches Umfeld, an Freizeit und besonders auch Sport, an Lehre, Studium, Beruf, überhaupt alle Lebensabschnitte. Sparsam werden die Stadt Berlin tangierende Ereignisse, wird Berlin-Typisches angesprochen, z. B. daran erinnert, was in seinen Augen das Alltagsleben in der kriegszerstörten, bald auch noch geteilten und dann von der Mauer durchzogenen, letzten Endes wiedervereinigten Stadt in den verschiedenen Zeiten ausgemacht hat.

Tram, S- und U-Bahn sind bei alldem keineswegs nur Kulisse oder gar Staffage für Selbstdarstellung. Regelrecht spannend werden die Fahrten, Bahnstationen und -linien, die Menschen in den Abteilen und Wagen, auf den Bahnsteigen und vieles mehr noch geschildert. Dabei sind Bosetzkys Erlebnisse während der Fahrten kreuz und quer durch Berlin - die Erinnerungen setzen 1942, etwa vier Jahre war er damals alt, ein - durchaus nicht so einzigartig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Autor mußte, schon um möglichst durchgängig die Spannung zu erhalten und um Wiederholungen zu vermeiden (was gelungen ist), die Manuskripte unterschiedlich gliedern. Nicht selten geht es ziemlich unkonventionell hin und her, ohne jedoch den Leser übermäßig zu verwirren.

In dessen Interesse ist es auch, daß in allen drei Fällen auf fachlichen Rat aus erster Hand zurückgegriffen wurde. Am Straßenbahn-Buch hat mit Klaus Gottwaldt ein ausgesprochener Fachmann für Berliner Verkehrsfragen mitgearbeitet. Episoden aus seinem beruflichen Alltag erzählt zudem Klaus Reineck, der „Mann an der Kurbel“, ein leibhaftiger Straßenbahnfahrer der BVG. Die schönen Fotos in dem Buch stammen aus Privatbesitz bzw. vom Deutschen Technikmuseum Berlin. Bosetzky selbst hatte seine erste Begegnung mit der Straßenbahn in Neukölln, in der heutigen Sonnenallee. Mit der Straßenbahn ging es zur Schmöckwitzer Oma und auch zur Kohlenoma, das war die mit dem Kohlenkeller in der Manteuffelstraße. Beliebt war auch die Fahrt zu Tante Trudchen, die in Siemensstadt wohnte. Den Stadtteil konnte man damals von Neukölln aus mit der Linie 12 erreichen, ohne auch nur einmal umsteigen zu müssen. Höhepunkt war dabei die Fahrt durch den östlichen Lindentunnel, also unter Unter den Linden hinweg. Die Straßenbahn als U-Bahn, das war für ihn die absolute Sensation.

Das S-Bahn-Buch ist besonders stark autobiographisch. Das wäre aber auch im Straßenbahn-Buch schlecht möglich gewesen, ist doch das Netz der „Elektrischen“ in Westberlin bis 1967 Stück für Stück stillgelegt worden. Das Buch zur S-Bahn ist nach Lebensabschnitten gegliedert. Es setzt ein mit Erinnerungen an Kindheit und Lehrzeit. S-Bahn-Fahrer wollte er werden. Gegen Vaters Argument: „Du hast sie ja nicht mehr alle: Wozu machsten da das Abitur?“, aber war kein Ankommen - und außerdem gehörte die S-Bahn zum Osten. Auch mit der sofort nachgeschobenen Alternative Straßenbahnfahrer war zunächst einmal kein Staat zu machen. „Die Straßenbahn wird abgeschafft.“ Zur Uni wäre er damals schon gerne gegangen, aber was denn eigentlich studieren? Lehrer für Sport und Geschichte kam leider nicht in Frage, weil das Turnen nicht seine Sache war. Soziologie hätte er schon studieren wollen, wußte aber nicht, daß das, was er da wollte, diesen Namen trug. Mit der Psychologie war es ebenso. Etwas anderes mußte also her, und so gingen Bewerbungsschreiben an die Post (weil Vater dort arbeitete), auch an die BVG („Weil du doch deine Straßenbahn so liebst“), an die Bewag („Strom braucht man immer“) und an die Firma Siemens (weil Onkel Erich dort als Oberingenieur hochgeachtet war). Bei Siemens klappte es schließlich, und so fuhr er als Lehrling von 1957 bis 1959 (und später als dort jobbender Student) von Neukölln nach Jungfernheide, weiter mit der „Siemensbahn“ - je nachdem, wo gerade Ausbildung war, bis zu den Stationen Wernerwerk, Siemensstadt oder Gartenfeld. Die Bahnhöfe Sonnenallee und Jungfernheide lagen sich auf dem Kreis genau gegenüber, in der Mitte sozusagen, und es war immer neu zu entscheiden: Lieber unten über Papestraße fahren oder oben über Gesundbrunnen. Welche Strecke er auch wählte, sowohl über den Süd- wie den Nordring ergab sich eine Fahrzeit von 28 Minuten.

In den folgenden Kapiteln begleitet der Leser Horst Bosetzky zum Sport: mit der „Sportbahn“ zum Olympiastadion mit Schwimm-, Hockey- und Reiterstadion sowie dem Maifeld, zum Mommsenstadion, zur Deutschlandhalle, Waldbühne und Eissporthalle in der Jafféstraße; mit anderen Bahnen ins Poststadion, zur Schöneberger Sporthalle, zum Poloplatz in Frohnau und zu vielen weiteren, auch kleineren Sportstätten, spielte er doch selbst Fußball (1. FC Neukölln) und betrieb Leichtathletik (TuS Neukölln). Dann fährt man mit ihm zur Universität (wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Freien Universität in Dahlem), zur Arbeit (von den späteren Wohnorten in Frohnau bzw. Wilmersdorf zur Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, wo er als Soziologie-Professor unterrichtet, zunächst nahe Savignyplatz, nach der Wende in Friedrichsfelde). Mit der S-Bahn geht es schließlich, wie könnte es anders sein, auch „zum Morden“ - gemeint sind Fahrten vorbei am Bahnhof Rummelsburg, verbunden mit der Geschichte, wie hier 1940/41 ein gewisser Paul Ogorzow sein Unwesen getrieben hatte, bis er gefaßt und in Plötzensee geköpft wurde. Des weiteren bieten sich Fahrten zu Verwandten und Freunden und das Benutzen der S-Bahn vor und nach der Wende dafür an, um von bestimmten Ausgangspunkten Berliner Randgebiete und brandenburgische Ziele zu erwandern, Gelegenheit für vielfältiges Variieren des Themas. Zum Abschluß gibt es dann noch Details einer Fahrt durch die Nacht: von Frohnau nach Nikolassee, dann über Ostkreuz nach Hohen Neuendorf und von dort den Katzensprung zurück nach Frohnau. Wie beschwerlich war es da zu Mauerzeiten gewesen, von Frohnau selbst „nur“ nach Hohen Neuendorf, Birkenwerder oder Oranienburg zum weiteren Wandern zu fahren. Auch das wird beschrieben, es ging nur so: Mit der S-Bahn bis Friedrichstraße, dann - nach nervender Grenzkontrolle und Mindestumtausch - wieder mit der S-Bahn bis Alexanderplatz, weiter mit der U- und Hochbahn bis Schönhauser Allee, von dort erneut mit der S-Bahn bis zum Ziel, dabei hautnah an Frohnau vorbei.

Das S-Bahn-Buch wurde vom Berliner S-Bahn-Museum (am Bahnhof Griebnitzsee) mit historischen Fotos, anderen Illustrationen sowie kurzen Fachtexten unterstützt. Durch unterlegten Grauton kenntlich gemacht, in das Buch eingestreut und auch im Inhaltsverzeichnis ausgewiesen, informieren sie über die Typologie der S-Bahn-Baureihen, das Signalsystem, die Funknamen der Zuggruppen, die Nachkriegsgeschichte der S-Bahn und auch über historische Streckennamen und heutige Liniennummern. In einem Schlußteil stellt Bosetzky kurz, aber dafür um so liebevoller Sachliteratur zum Thema S-Bahn und die jeweils zuständigen Autoren vor. Für ihn selbst, das wird deutlich, ist die Berliner S-Bahn mehr als ein oft überfülltes, übelriechendes Verkehrsmittel, sondern so etwas wie ein Lebensgefühl, etwas ebenso zu Berlin Gehöriges wie die Eckkneipen, die Hinterhöfe, die Kleingärten. Nicht nur viel älter als die S-Bahnen aller anderen deutschen Städte, Hamburg ausgenommen, hat sie, wie der Autor betont, im Vergleich mit ihnen auch wesentlich mehr sowohl an persönlichen Geschichten als auch an deutscher Geschichte zu bieten, denn: „Die anderen haben keinen Kaiser Wilhelm gehabt, jedenfalls nicht permanent in ihren Mauern, keine Reichskanzlei, keine Tunnelsprengung, keine Blockade, keinen Ulbricht und keinen Honecker, keine Mauer und keine Wiedervereinigung, hautnah und täglich. Und keinen Vollring mit einer knappen Stunde Fahrzeit, eine Strecke ohne Ende, ein sich immer wieder schließender Kreis. Und keine Museumszüge, die nach fast siebzig Jahren noch immer im Plandienst verkehren, wie sonst in Europa nur die Lissabonner Straßenbahn.“

Sozusagen an dritter Stelle ist 1999 auch noch die Berliner U-Bahn zu ihrem Recht gekommen. Das ihr gewidmete Buch ist sogar am umfangreichsten. Es beginnt mit einer fast philosophischen Betrachtung über „Die U-Bahn und das Leben als solches“. Darauf folgt („damit der große Überblick nicht verlorengeht“) etwas U-Bahn-Historie, an die sich ein kurzer Abschnitt „Die U-Bahn als Lebensraum“ anschließt. Im Unterschied zu Straßenbahn und S-Bahn geht es bei der U-Bahn „stellenweise etwas spinnerter“ zu, wie eingestanden wird: „Manches wird ironischer und satirischer gesehen, alles ist eben ein wenig bunter. Dunkle und öde Tunnel erfordern offenbar ein ganz besonderes Gegengewicht, damit man sie ertragen kann.“

Der Leser wird mit in den Untergrund hinabgezogen, nimmt teil am „assoziativen Abfahren“ der U-Bahn-Linien 1 bis 9. Er erfährt dabei nicht nur etwas über die U-Bahn, die einzelnen Bahnhöfe, sondern auch über Erlebnisse, Eindrücke, Gefühle des Autors. Nach der Fahrt auf der Linie 7 hat er ein Stückchen „U-Bahn-Wahn“ zu Papier gebracht und es lakonisch so kommentiert: „Ja, so kann's einem ergehen, wenn man zuviel mit der Tunneleule und anderen Wagentypen unterwegs gewesen ist.“ Fahrgasttypologien gibt es, wie schon im Fall der S-Bahn, ebenfalls wieder, „in jahrelanger verdeckter Beobachtung erkannt“. In den U-Bahn-Erinnerungen erhalten gleich drei ehemalige Fahrer das Wort zu interessanten „Vor-Ort-Berichten“. Mit Beiträgen zu den technischen und geschichtlichen Details der U-Bahn rundet Uwe Poppel, Spezialist für dieses Verkehrsmittel, das Ganze ab. Ein Gewinn sind wiederum zahlreiche historische Fotos und Netzpläne.

An spannender Berliner Geschichte und Gegenwart kann sich erfreuen, wer die vorgestellten Bücher liest oder auch nur hin und wieder darin blättert. Horst Bosetzky bringt herüber, welch große Fundgrube Erinnerungen sein können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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