Eine Rezension von Julius Waldschmidt

Medienmacher im Examen

Karl-Heinz Arnold: Zeitung
Ein Journalist berichtet.
Edition Ost, Berlin 2000, 340 S.

Wenn Zeitzeugen allmählich verstummen oder sich hinter einer Mauer des Schweigens eingegraben haben, kann ein Buch frische Luft in die geistige Landschaft wehen. Ein agiler 70er, promovierter Jurist und praktischer Journalist, hat es eben vorgelegt. Man darf sagen: Er hat es sich von der Seele geschrieben - 55 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der in Berlin geplant und entzündet wurde und der im April 1945 in die zerbombte, einst glänzende, pulsierende und arbeitsame deutsche Hauptstadt zurückkehren sollte. Hunger und Hoffnung wurden danach für lange Monate ständige Begleiter derer, die entlang der Trümmerberge ihre Wege zum und vom Arbeitsplatz zu suchen hatten.

Karl-Heinz Arnold, dem Heldentod für Hitler entronnen, studiert und sitzt nach einer HO-Praxis eines Tages in der Redaktion einer Tageszeitung, die im scheinbar kriegsverschonten Haus Jägerstraße 10/11 gemacht wird, getippt, gesetzt und als „Mater“ vorproduziert, bevor Radfahrer die Matrizen zur Rotationsdruckerei bringen. Mit fröhlicher Selbstironie schildert Arnold das aufregende Erlebnis des Zusammenbaus einer Zeitungsseite, also des „Umbruchs“, der dank der eisernen Ruhe und Kompetenz eines Deus ex machina in Gestalt des Metteurs „Papa“ Heinze glücklich gelingt. Der junge Justitiar aber entwickelt sich zu einem flüssig und verständlich schreibenden Wirtschaftsjournalisten, dessen kritisches Urteil von der Überzeugung diktiert ist, einer guten Sache zu dienen. Auf jeder Stufe des Berufsweges aus einer Zeit, da „Sattessen ... in vielen Familien der größte Wunsch“ war, wachsen Erfahrungen und Erkenntnisse zu, analysiert man Vorgänge, Etappen in der Ökonomie, der Innen- und der Außenpolitik der kleinen DDR, die sich als hervorragende Zielscheibe für die Dirigenten des Kalten Krieges in Deutschland erweist und hervortut. Der Autor scheut sich nicht, das eigene Engagement für Fehlentscheidungen zu tadeln, die auf hoher und höchster Führungsebene - oft gegen entschiedene Warnung oder den Rat der Sachkenner - getroffen worden waren. Ich glaube, jeder Leser, der den so schmerzhaften, zweifellos schwierigen und immer wieder enttäuschenden Prozeß des Zusammenwachsens von „Ost“ und „West“ in Deutschland verfolgt, hat wohl Anspruch darauf zu erfahren, aus welchen Motiven einschneidende Maßnahmen im deutsch-deutschen Verhältnis abgeleitet wurden, wie viele Fragen auf klare Antworten jenseits gängiger Halbwahrheiten noch warten. Zum Beispiel notiert der Verfasser, daß von Oktober 1949 bis Oktober 1990 die Bevölkerungszahl im zweiten deutschen Staat um mehr als zwei Millionen Menschen abnahm (seitdem um fast eine weitere Million/J. W.), doch er findet „keine allgemein gültige“ Erklärung dafür, daß die Mehrheit eben blieb. Er unterzieht die eigene Tätigkeit als verantwortlicher Medienmacher und Parteimitglied der SED einem Examen rigorosum. Er schreibt, die mindestens 86 000 Parteisekretäre in den Basisorganisationen, „in der Mehrzahl achtbare und oft auch von den Parteilosen geachtete Persönlichkeiten“, seien zu den großen Verlierern der Geschichte zu rechnen.

Wie ein roter Faden durchzieht den Buchtext die Mediensteuerung durch den Apparat des SED-Zentralkomitees, die penible oder saloppe Schulmeisterei, die in der Regel die Journalisten zu einer Art Slalom um Tabu-Tafeln auf den Pisten des Kalten Krieges zwang. Da begegnet man Politbüromitgliedern wie Günter Mittag, Bezirkssekretären wie Konrad Naumann und schließlich Alexander Schalck-Golodkowski, jenem 1,90-Meter-Mann, der ab 4. Dezember 1989 dem Bundesnachrichtendienst in München-Pullach zur Verfügung stand. Wer erinnert sich nicht, daß sein wichtigster Bekannter und Kreditbeschaffer Franz-Josef Strauß hieß? Wer mochte damals wissen, daß im Keller des Berliner Schalck-Dienstsitzes (Wallstr. 17-22) mehr als dreimal soviel Gold wie in der Staatsbank der DDR gehortet war? „Die DDR war pleite, aber Schalck hatte Geld“, bemerkt Autor Arnold sarkastisch.

Die Atmosphäre der Kontakte zu den Chefs der Ständigen Vertretung der Alt-BRD in Berlin (Ost) kontrastiert, wie Arnold mitteilt, scharf mit den Erfahrungen, die sich aus dem Grundverhalten des langjährigen UdSSR-Botschafters Pjotr Abrassimow ergaben, der „mit der Attitüde eines Statthalters, ... dem jeder Gedanke an eine souveräne DDR verhaßt war,“ auftrat. Böse Zungen sollen den Diplomaten als „Regierenden Botschafter in Berlin“ tituliert haben.

Unter dem lakonischen Titel Zeitung liest man das ehrliche Bekenntnis eines Insiders. Es ist nachahmenswert für noch andere, hilfreich für ehemalige DDR-Bürger, die mit sich, ihrer Geschichte und ihrer neuen Umwelt ins Reine kommen wollen. Die Fakten, die der Verfasser aufblättert und nüchtern erläutert, werden, wie man annehmen kann, einem weitaus größeren Leserkreis gründlicheres Wissen und mehr Verständnis, vor allem die Entdeckung mancher Wahrheiten, erleichtern. Das mag nicht zuletzt unter solchen Landsleuten nützlich sein, die aus guten, ja bitteren Gründen halb furchtsam, halb selbstgefällig auf „die im Osten“ herabsahen und jetzt bewundernd das Bild des Berliner Gendarmenmarkts genießen. Wenn sich der Verlag entschlösse, dem Arnold-Buch ein Personen- und Sachregister beizulegen, würde die Lektüre wirksamer sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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