Literaturstätten von Gudrun Schmidt

Literatur zum Hören, Sehen,
Darüber-Reden

Die Restauration Walden im Prenzlauer Berg

Literarischer Salon, Literarisches Menü, Kindertheater, Film & Lesung oder Spezialitätenwochen - die Restauration „Walden“ mit der freundlichen Sonne über der Eingangstür in der Choriner Straße 35 hat viele Facetten. Jeden Sonntagabend, wenn es im „Literaturlabor - Lauter niemand“ zur Sache geht, knistert's vor Spannung. Jeder kann hier seine Texte vorstellen und anschließend mit dem Publikum darüber diskutieren. Der Raum ist proppenvoll. Der Moderator muß nicht lange auf „Kandidaten“ warten. Ein junger Mann geht zum Podium, liest Gedichte. Verse über die Liebe, die Natur, eine Hommage an die vergessenen Dichter. „Der Ruf der Parzen“ - so ein Titel.

Wenn Lyrik auf dem Prüffeld steht, machen Handzettel im Publikum die Runde. Dichters Wort zum Nachlesen und besseren Verständnis. Nur der Name des Poeten ist nicht vermerkt. Das gehört bei „Lauter niemand“ zum Konzept. Unvoreingenommen und ohne Ansehen der Person soll diskutiert werden. Kommt anderswo manchmal nach Lesungen das Gespräch nur mühsam und verhalten in Gang, wird hier schnell Klartext geredet. Der Autor hat an diesem Abend allerhand einzustecken. Die Debatte entzündet sich vor allem an der Sprache. Sie sei altertümelnd, geborgt, bei dieser Art zu schreiben, werde er sich bald in einer Sackgasse verrennen, oder er solle doch gleich Schlagertexte verfassen. Der junge Mann nimmt es gelassen, verteidigt sich, Gefühle seien seit ewigen Jahren gleich geblieben. Den Vorwurf, konservativ zu sein, läßt er nicht gelten, auch wenn er wie die Altvorderen dabei bleibt, Träne eben weiter mit h zu schreiben. Seine Verehrung gilt der Dichterin Sappho. Während die Meinungen noch heftig aneinander geraten, bereitet sich indessen der Nächste auf seinen „Auftritt“ vor. Bis zuletzt feilt er am Manuskript. Als er nach vorn geht, weist sein Text viele Korrekturen auf.

Etwa drei bis fünf Autoren gelangen beim sonntäglichen „Literaturlabor“ in den Prüfstand. Es sind Leute unterschiedlichster Art, junge mit flippigen Frisuren und ergraute ältere. Sie kommen aus dem Kiez und aus anderen Stadtbezirken. Drei Moderatoren wechseln sich mit der Leitung ab. Es ist ein offener Kreis, es gibt keinen Vereinsstatus. Namen zählen hier nicht. Aber man kennt sich doch, redet sich mit Vornamen und du an, wie es in der Diskussion offenbar wird.

Ebenso bunt gemischt das Publikum. Erstbesucher erkennt man am Sie. Zwei ältere Damen, Neu-Berlinerinnen, haben in der Zeitung von dieser Veranstaltungsreihe gelesen. Früher haben auch sie geschrieben. Vielleicht bringen sie gelegentlich ihre Texte mit. Viele, wie der oben erwähnte junge Dichter, sind nicht zum erstenmal hier. Die Kritik hat ihn offenbar nicht verprellt. Schreiben ist ein einsamer Prozeß. Darüber reden kann eine Hilfe sein. Clemens Kuhnert, Architekt, der zu den drei Moderatoren gehört, schätzt am „Walden“, daß es hier nach den offiziellen Laborstunden noch Gelegenheit gibt, in kleinen Runden weiter am Text zu experimentieren. Im Sommer vergangenen Jahres hat deshalb das „Literaturlabor“ sein Domizil von Mitte hierher verlegt.

Den Betreibern des „Walden“ war solcher Zugang nur recht. Kiezkneipe mit kulturellem Anspruch - unter diesem Konzept sind sie im Mai 1998 gestartet und ihm treu geblieben. Vor kurzem wurde zum 30. Literarischen Salon eingeladen. Er war Heiner Müller gewidmet. „Am Anfang nannten wir diese Abende, die jeden 1. Montag im Monat stattfinden, einfach Literarisches Cafe“, erzählt Eva Jankowski. Mit Mathias Beck und Peter Bongardt bildet sie die Walden-Crew. Salon schien ihnen zu anspruchsvoll. Und nicht unbedingt salonhaft im herkömmlichen Sinn ist das Ambiente. Aber es gibt ein interessiertes Publikum. Das hat sich herumgesprochen, und viele Autoren kommen gern zu Lesungen. Vera Friedländer, Peter Brasch, Wolfgang Engler, Elke Erb, der sorbische Dichter Kito Lorenc, um nur einige zu nennen, stellten ihre neuen Texte vor.

Als eigene Kreation ist das „Hörspiel zum Zugucken“ entstanden - eine szenische Lesung (jeden 3. Montag im Monat) von Schauspielern mit Musik, Kostümen und allerlei Instrumentarien. Heinrich Kleists Die Marquise von O., Agatha Christies „Miss Marple“, Erich Kästners Fabian, Kurt Tucholskys Schloß Rheinsberg, Friedrich Dürrenmatts Die Panne wurden u. a. für den Salon in Szene gesetzt. Theatererfahrungen kamen den Walden- Wirten dabei zugute. Eva Jankowski hat zu Beginn der 90er Jahre an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin Regie studiert, als Regieassistentin in Eisenach und Chemnitz gearbeitet. Jüngst pendelt sie zwischen dem „Walden“ und dem „Theater unterm Dach“ hin und her. Dort inszeniert sie mit einer freien Gruppe ein Stück des französischen Autors Roland Topor „Ein Winter unterm Tisch“, in dem es um Toleranz gegenüber Ausländern geht. Von der Theaterwissenschaft kommt Peter Bongardt, und Mathias Beck hat sich dem Kindermusiktheater verschrieben. Ein Glücksfall für das „Walden“ ist seine solide Ausbildung als Küchenmeister in renommierten Restaurants. Beim „Literarischen Menü“, so der Titel einer weiteren Veranstaltungsreihe, sind seiner Phantasie keine Grenzen gesetzt. Wenn „Ribbecks pochierte Birne mit Waldbeerenmoussee und Pfirsichschaum“ auf der Speisekarte steht, die übrigens jeden Tag handgeschrieben ausgelegt wird, kann der unermüdliche Wanderer durch die Mark Fontane nicht weit sein. Für den ihm gewidmeten Abend „Ich bin nicht für halbe Portionen“ hat Mathias Beck in alten Kochbüchern gestöbert und serviert neben Gedichten und Auszügen aus Romanen Gerichte nach Originalrezepten von 1890. Und ganz wörtlich gemeint sind die Wein-Lesungen „Mit dem Traktor durch die Toscana“. Stephan Dierichs, der einige Zeit als Weinbauer dort gelebt hatte, kredenzt bei Kerzenschein zum Wein eigene Texte.

Ins „Walden“ kommen mittlerweile viele Stammgäste, Künstlerfreunde, aber auch Leute von nebenan. Hier werden schon mal Pakete für Nachbarn entgegengenommen, oder der Schlüssel kann hinterlegt werden. Es ist weder eine typische Szene- noch Berliner Eckkneipe. Vom Schankraum gelangt man in mehrere kleine, originell ausgestattete Räume, die Platz für die unterschiedlichsten Programme bieten. Im „Grünen Salon“ assoziieren Wandmalereien eine Parklandschaft mit Pfauen, antiken Brunnen und Säulen. „Er soll verzaubern“, sagt Eva Jankowski. Und sie meint damit: „Nicht alle Dinge sind so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen.“

Neben anderen Originalgrafiken fällt in der Wirtsstube ein Porträt Herwarth Waldens auf. Manfred Bofinger hat es gezeichnet und Mathias Beck zur Eröffnung geschenkt. Doch hier irrte - wie manch andere auch - der Karikaturist. Nicht vom Begründer der expressionistischen Zeitschrift „Der Sturm“ und Wegbereiter der europäischen Avantgardisten leitet sich der Name ab. Durch Zufall war den drei jungen Wirtsleuten das Buch des amerikanischen Autors Henry David Thoreau Walden oder Leben in den Wäldern in die Hände gefallen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der ehemalige Lehrer aus Protest gegen die fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft in eine Einsiedelei an einem Waldsee in Massachusetts zurückgezogen. Sein Versuch, alternativ zu leben, scheiterte nach zwei Jahren, aber die Erfahrungen dieses Aussteigers zum Umgang mit der Natur, zum Besitz oder zur Freiheit des Individuums haben seither viele angeregt. Nicht zuletzt die Walden-Crew. Wer neugierig geworden ist, kann das bei Diogenes erschienene Buch gleich an Ort und Stelle erwerben.

Übrigens, Herwarth Walden wird nur wenige Straßen weiter in einer Galerie Ehre zuteil.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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