Eine Rezension von Gerhard Keiderling

Die Vorbereitung der Wiedervereinigung

Karl Heinz Roth: Anschließen, angleichen, abwickeln.
Die westdeutschen Planungen zur Übernahme der DDR 1952
bis 1990.
Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000, 180 S.

Die Geschichte vom Ende der DDR ist schon in vielen Büchern beschrieben worden. Über die Geschichte, wie man sich in der Bundesrepublik vor 1990 auf dieses Ende vorbereitete, weiß man vergleichsweise wenig. Die erste Adenauerregierung bildete am 24. März 1952 - nur wenige Tage nach der Zurückweisung der Stalin-Note vom 10. März 1952, die die Wiedervereinigung zu einem neutralen Deutschland anbot - einen „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“. Seine offiziellen Berichte von 1954, 1957, 1961, 1965 und 1969 enthielten ein Paket von politisch-rechtlichen, ökonomoischen, finanziellen und sozialen Maßnahmen zur Übernahme des DDR-Systems am „Tage X“. Am 8. April 1974 beendete die Brandtregierung „förmlich“ das Ende des Forschungsbeirates. Er paßte nicht mehr in die durch deutsch-deutsche Entspannung veränderte politische Landschaft, zumal Brandt bald schon die Wiedervereinigung eine „Lebenslüge der Bundesrepublik“ nannte. Gottlob - so darf man wohl rückblickend sagen - überwinterten in Bonn einige Planstäbe wie die „Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen.“ Ihrem nimmermüden Eifer war es 1990 zu verdanken, daß man für die Abfassung des Einigungsvertrages nicht zeitraubende Enqueten anstellen und riesige Aktenberge durchforsten mußte.

Die Bonner Planungen zur Übernahme der DDR sind Gegenstand des vorliegenden Buches, das aus der Fülle der im Koblenzer Bundesarchiv liegenden Dokumente nur 18 Schriftstücke auswählte. Es handelt sich um Materialien zur Bildung des Forschungsbeirates und zur Abfassung der Tätigkeitsberichte von 1954 und 1961, um eine streng vertrauliche Rede Adenauers vor dem Beirat vom 25. Januar 1954 sowie um Materialien zu Organisationsfragen und zur Analyse der DDR-Wirtschaft von 1989.

Der Herausgeber Karl Heinz Roth, Mitbegründer der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, hat sich mit dem Thema seit seinem Buch Invasionsziel DDR. Vom Kalten Krieg zur Neuen Ostpolitik (konkret Buchverlag, Hamburg 1971) wiederholt beschäftigt. Er beschreibt die Gründungsgeschichte des Forschungsbeirates, seine Struktur, Arbeitsweise und personelle Besetzung. Die drei Phasen seiner Tätigkeit korrespondierten eng mit der allgemeinen Deutschlandpolitik: 1952/53 standen Sofortmaßnahmen für den kurzfristig erwarteten „Tag X“ auf der Agenda; ab 1954 begann eine „Übergangszeit“, die modifizierte Planungen für neue Wiedervereinigungsvorschläge (Eden-Plan, sowjetischer Friedensvertragsvorschlag, deutsche Konföderation, Disengagement) verlangte; die Zeit der „Neuen Ostpolitik“ ab 1967/68 führte schließlich 1975 zur Reduzierung des Forschungsbeirates auf die erwähnte Forschungsstelle, die seit Mitte der 80er Jahre wieder Aufwind bekam.

Aufschlußreich für Geist und Auftrag des Forschungsbeirates sind die personalpolitischen Nachweise. Als Spiritus rector des illustren Kreises von Partei- und Gewerkschaftspolitikern, Finanz-, Rechts- und Wirtschaftsexperten fungierte der Bankier Dr. Friedrich Ernst. Er brachte seine praktischen Erfahrungen bei der Annexion Österreichs, der Sudetengebiete und der sogenannten Rest-Tschechei durch das Großdeutsche Reich sowie als Reichskommissar für die Behandlung des feindlichen Vermögens der nach 1939 annektierten Gebiete ein. Auf Ernst geht auch das Primat der Währungspolitik, genauer die spezifische Taktik der „Währungsunion“, in der Wiedervereinigungsstrategie zurück.

Aus den Tätigkeitsberichten des Forschungsbeirates geht hervor, daß vieles von dem, was nach 1990 in den neuen Bundesländern ablief, seit Jahrzehnten bis ins Detail vorgesehen war. So empfahl man schon 1957 „unter dem Applaus der westdeutschen Ärzteverbände, schnellstmöglich die freie Arztwahl und ärztliche Niederlassungsfreiheit wiederherzustellen, das staatliche Gesundheits- und Werksarztwesen auf die in der BRD üblichen Funktionen zurückzustutzen, die ärztliche Selbstverwaltung wieder aufzubauen, die ärztlichen Beratungsstellen aufzulösen und die Polikliniken und Ambulatorien mit Ausnahme der Universitätspolikliniken - Gemeinschaften privater Ärzte entgeltlich - zur Verfügung zu stellen“.

Nachdenkenswert ist Roths Einschätzung: „Die Bundesrepublik konnte es sich aufgrund ihrer Bedeutung im westlichen Bündnissystem leisten, die Option einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter von ihr zu diktierenden Bedingungen zu formulieren und daran vierzig Jahre festzuhalten ... Solche strategischen Möglichkeiten hatten die DDR-Eliten niemals. Die DDR war wirtschaftspolitisch schwach sowie gesellschaftspolitisch häufig instabil. Ihre Regierung konnte sich deshalb eine offensive Langzeitstrategie gegen die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt ihrer vierzigjährigen Geschichte leisten ... Deshalb werden die Fanatiker der Gauck-Behörde und ihres Umfeldes auch niemals ein Planungspapier zur staatssozialistischen Anpassung der BRD-Ökonomie und der sie tragenden Infrastrukturen an die durch die DDR vorgegebenen Bedingungen vorweisen können.“

Das Buch stellt klar, daß die Bundesregierung im Herbst 1989 „nicht im geringsten von den ,Ereignissen‘ überrascht worden [ist], wie heute gemeinhin behauptet wird“ Es wirft zahlreiche Fragen auf, um die sich die bisherige Einigungsliteratur vorbeigemogelt hat: Wann und wie startete Bonn sein Destabilisierungs-und Übernahmeprogramm, waren Losungen der Montagsdemonstrationen wie „Wenn die DM nicht kommt, gehen wir zu ihr“ gesteuert, wie wurde der basisdemokratische Aufbruch (Runde Tische) ausmanövriert, welche Rolle spielten die „Berater“, die ab 20. März 1990 unter der de Maizière- Regierung das Zepter übernahmen, wie verfuhr man mit dem Ost-Entwurf eines Einigungsvertrages u. a. m. Antworten auf diese Fragen wird man erst nach Ablauf der 30jährigen Sperrfrist in den Bonner Archiven finden, dann nämlich, wenn „die Sieger der historisch-konkreten Forschung den Blick auf ihr eigenes archiviertes Herrschaftswissen über die Vernetzung von Planung, Entscheidungsfindung und Handeln bei der Einverleibung der DDR freigeben“. Wenn überhaupt, wird dies erst der übernächsten Historikergeneration möglich sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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