Eine Rezension von Gisela Reller

Weniger Allmacht für den Staat, mehr Macht
für die Gesellschaft

Leonid Luks:
Geschichte Rußlands und der Sowjetunion
Von Lenin bis Jelzin.
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2000, 576 S.

Von Lenin bis Jelzin, das heißt: Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breshnew, Andropow, Tschernenko, Gorbatschow, Jelzin ..., das heißt auch: eine Darstellung der Geschehnisse von Februar 1917 bis zum Rücktritt Boris Jelzins im Dezember 1999; Wladimir Putin - als Wunschkandidat für Jelzins Nachfolge - steht auf den letzten Seiten des Buches schon in den Startlöchern.

Rußland hat im 20. Jahrhundert zwei Zusammenbrüche seiner Staatlichkeit erlebt: 1917 den des alten zaristischen Regimes und 1991 den des kommunistischen Systems. Das vorliegende dickleibige Buch befaßt sich mit den Gründen für diese beiden Zusammenbrüche und mit dem System, das sich nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu etablieren beginnt. Die erste Chance, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, in der der Staat ein Stück von seiner Allmacht verliert und die Gesellschaft an Macht gewinnt, ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1905-1917) vertan worden. „Ob die zweite Chance, die sich Ende des 20. Jahrhunderts (Anfang des 21. - d. Verf.) ergibt, genutzt wird“, schreibt Luks in seinem Schlußwort, „bleibt abzuwarten.“

Leonid Luks, 1947 in Swerdlowsk (heute wieder Jekaterinburg) geboren, lehrte an den Universitäten München, Bremen, Köln, seit 1995 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstädt. Da ein Hinweis auf eine Übersetzung fehlt, ist anzunehmen, daß er in Deutsch schreibt.

Der Osteuropahistoriker Luks kann bei seinem Buch auf neueste Quellen zurückgreifen, so daß er fast alle Kapitel der russischen und sowjetischen Geschichte neu interpretieren kann. Außerdem fügt Luks, wo immer es sich anbietet, die russische Entwicklung in die europäischen Zusammenhänge ein. Luks scheut sich auch nicht, z. B. Hitler und Stalin - ohne allerdings zu werten - einem Vergleich zu unterziehen: Während Stalin sich trotz seines Größenwahnsinns als Fortsetzer des Werks von Marx und Lenin bezeichnete, sah Hitler sich selbst als eine einmalige Erscheinung in der Weltgeschichte - ohne Vorgänger.

Luks' Buch zeichnet sich auch durch auffällig viele aufschlußreiche und beeindruckende Zahlen aus, z. B. erfährt der Leser, daß 1923/24 das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen eines Bauern 50 Rubel, das eines Arbeiters 127 Rubel und das eines sehr reichen Bauern - eines sogenannten Kulaken - ganze 120 Rubel betrug. Oft, wenn man als Leser von den Argumenten, Fakten, Zahlen des Autors schon überzeugt ist, legt Luks noch nach, z. B. wenn er über die erste Phase des deutsch-sowjetischen Krieges (nichts da von Großem Vaterländischem Krieg) schreibt. Als Gründe für das Debakel der Roten Armee im Sommer und Herbst 1941 nennt er Stalins Verbot, rechtzeitig wirksame militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen (weil Stalin Hitler nicht provozieren wollte), den Überraschungsangriff der Deutschen, die Ermordung Tausender Offiziere der Roten Armee auf Stalins Befehl in den Jahren 1937/38. „Aber selbst diese Umstände stellen keine ausreichende Erklärung dafür dar“, schreibt Luks, „dass es der Wehrmacht, die zu jenem Zeitpunkt weder zahlenmäßig noch technisch der Roten Armee wesentlich überlegen war, gelang, innerhalb von sechs Monaten 3,8 Millionen sowjetischer Soldaten gefangenzunehmen und bis Moskau vorzudringen. Luks verweist auf eine erschreckend niedrige Kampfmoral vieler sowjetischer Soldaten zu Beginn des Krieges. Sogar gegen Kriegsende (1944/45), behauptet er, sei jeder sechzehnte sowjetische Kriegsgefangene ein Überläufer gewesen. Woher diese Zahl stammt, belegt Luks leider nicht. Völlig neu für mich, daß - im Zusammenhang mit dem Wunschtraum einer Weltrevolution - im russischen Sprachgebrauch das Wort „Heimat“ verboten war? Erst Mitte der dreißiger Jahre wurde diese Vokabel „wiederentdeckt“ im Zusammenhang mit der Ausrichtung der Sowjetunion auf einen eventuellen Krieg. Luks schreibt ausführlich über jene zusätzliche „Nationalisierung“ bzw. Russifizierung des Bolschewismus.

Mehrere Entwicklungen, schreibt der Autor in seinem Vorwort, seien in dieser Monographie nur skizzenhaft dargestellt. „Dies war leider unvermeidlich, sonst hätte sie einen vertretbaren Umfang gesprengt.“ Verständlich. Aber warum gerade das letzte Kapitel, „Das postkommunistische Russland unter Boris Jelzin“, so kurz wegkommt, ist unverständlich. Sollte der Grund darin liegen, daß es leichter ist, sich über Tote zu äußern als über Lebende?

Obwohl sich diese Monographie durchaus auch als wissenschaftliches Buch versteht, hat der Autor auf einen Anmerkungsapparat verzichtet und statt dessen notwendige Erläuterungen immer gleich in Klammern angefügt, was das Lesen wesentlich erleichtert - zumal bei diesem kiloschweren Buch. Unerklärlich ist, warum Luks im Personenregister wie im Deutschen üblich Josef Stalin schreibt, den kommunistischen Politiker aber im Buch durchweg Josif (russisch: Iossif) nennt. Computer hin, Computer her, die vielen falschen Worttrennungen am Zeilenende sind ärgerlich: Sow-jetunion statt So-wjetunion, Chruscht-schow statt Chru-schtschow, Tschechos-lowakei statt Tschecho-slowakei, Gorbat-schow statt Gorba-tschow, Tschet-schenen statt Tsche-tschenen usw.

Das eine oder andere Neue hat man in den zahlreichen Büchern, die seit der Perestroika erschienen sind, schon gelesen, z. B. in Büchern über Personen der Geschichte und in erschütternden Büchern z. B. über die sowjetischen Schauprozesse, aber dieses Buch mit seinen 82 Jahren neuer Fakten, Zahlen und Interpretationen hat die reelle Chance, ein Standardwerk zu werden


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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