Eine Rezension von Eberhard Fromm

Aus Kierkegaards Gedankenwelt

Sören Kierkegaard: Berliner Tagebücher
PHILO Verlagsgesellschaft, Berlin 2000, 88 S.

Der Herausgeber dieser kleinen Schrift, Tim Hagemann (Jg. 1964), hat sich bereits mit der Herausgabe anderer Arbeiten darum bemüht, den dänischen Denker Kierkegaard mit seinem Leben und Schaffen wieder stärker ins Gespräch zu bringen. Sören Aabye Kierkegaard (1813-1855), dessen Name stets im Zusammenhang mit der Existenzphilosophie fällt, zählt zu den großen Denkern des 19. Jahrhunderts. Und wie ein Landsmann des Philosophen, Harald Höffding, schon 1892 betonte, wird Kierkegaard nie aufhören, unser Zeitgenosse zu sein.

In Deutschland existiert bereits eine reichhaltige Literatur von und über Kierkegaard. Das betrifft sowohl seine Werke und seine Tagebücher als auch Biographien und Einzeluntersuchungen zum Schaffen des Philosophen. Insofern stellt die kleine Auswahl unter dem Titel Berliner Tagebücher keine Neuentdeckung dar, es ist mehr eine Erinnerung, eine Wiederbelebung. Wer in dieser Auswahl etwas über die Berlinansichten Kierkegaards erfahren will, wird enttäuscht sein; er sollte sich den Briefen zuwenden, die Kierkegaard aus Berlin und über Berlin geschrieben hat. Wer jedoch in die Gedankenwelt des Philosophen während seiner Berlinaufenthalte eindringen möchte, der findet hier interessantes Material.

Kierkegaard hat Berlin viermal besucht. Zum erstenmal kam er im Oktober 1841 für mehr als fünf Monate in die preußische Hauptstadt. Der zweite Aufenthalt fiel in die Zeit zwischen April und Juni 1843. Ein dritter Besuch im Mai 1845 dauerte nur eine Woche. Zu einem letzten Berlinaufenthalt kam es im Mai 1846.

Für die geistige Entwicklung Kierkegaards sind die ersten beiden Berlinbesuche von Bedeutung, während die letzten beiden mehr Reisen zur Entspannung waren. 1841 hatte Kierkegaard gerade seine Verlobung mit Regine Olsen gelöst; die Tagebuchaufzeichnungen widerspiegeln die inneren Kämpfe des jungen Mannes. „Man sagt, Liebe macht blind; sie macht mehr als das, sie macht taub, sie macht lahm“, notiert er. Daneben findet man Ausführungen über Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854), dessen Vorlesungen Kierkegaard besuchte. Die Notizen zeigen, wie sich die anfängliche Begeisterung in Skepsis und Spott wandelt.

Als Kierkegaard 1843 nach Berlin kam, war gerade sein großes Erstlingswerk Entweder - Oder erschienen, und er arbeitet an Die Wiederholung. In diesem Buch finden sich ausführliche Beschreibungen Berlins, vor allem seiner Theater. Und vom Gedarmenmarkt schwärmt er: „Der Gendarmenplatz ist wohl der schönste in Berlin, das Schauspielhaus, die zwei Kirchen nehmen sich vorzüglich aus, besonders im Mondschein von einem Fenster aus gesehen.“

In den hier abgedruckten Tagebuchtexten findet man vor allem im vierten Teil ausführliche Überlegungen zu ethischen und religiösen Problemen, so zum Denken oder zum Tod. Die Anmerkungen der Herausgebers stellen interessante Beziehungen zum Schaffensprozeß des Philosophen her.

Für den, der sich bereits ein wenig auskennt mit Kierkegaard, ist dieses Büchlein eine erfreuliche Begegnung. Für den aber, der noch keine Beziehung zu dem dänischen Denker hat, bleiben zu viele Fragen offen. Für ihn wäre ein wenig mehr Ein- und Hinführung angebracht gewesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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