Eine Rezension von Thomas Keiderling

Industrie-Eliten kannten kein Umdenken

Paul Erker/Toni Pierenkemper (Hrsg.):
Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft
und Wiederaufbau
Studien zur Erfahrungsbildung von Industrie-Eliten.
R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 331 S.

Das Verhalten führender deutscher Unternehmer in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik Deutschland gilt bislang als wenig erforscht. Der Sammelband Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau, will näheren Aufschluß über diesen Themenbereich geben. Die Untersuchung stützt sich auf erste Zwischenergebnisse eines größeren Forschungsprojektes am Institut für Zeitgeschichte.

Nach einer Einleitung durch Paul Erker zu den Industrie-Eliten des 20. Jahrhunderts stellen die Autoren des Sammelbandes insgesamt sechs Unternehmerbiographien im zeitgenössischen Kontext vor.

Als erstes schreibt Heidrun Edelmann über den Manager Heinrich Nordhoff (1899-1968), der während der dreißiger und vierziger Jahre in führenden Positionen des Brandenburger Opel-Werkes vorrangig die kriegsbedingte Lastwagenproduktion organisierte. Nach einem kurzen Entnazifizierungs-Intermezzo wurde er 1948 Leiter des Volkswagenwerkes und bewerkstelligte als Vorzeigeunternehmer den Wiederaufbau der PKW-Herstellung in der Bundesrepublik.

Toni Pierenkemper untersucht mit Hans-Günther Sohl (1906-1989) einen Eisen- und Stahl-Industriellen, der 1933 zum Rohstoff-Ressort bei der Krupp AG wechselte. Im Jahre 1941 gelangte Sohl in den Vorstand der Vereinigten Stahlwerke, dem damals zweitgrößten Stahlerzeuger der Welt und neben IG Farben größten Konzern Deutschlands. Damit gehörte der Fünfunddreißigjährige zu den führenden Ruhrindustriellen, die sich in enger Zusammenarbeit mit staatlichen und parteiamtlichen Stellen mit der kriegswirtschaftlichen Eisenproduktion beschäftigten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges internierten ihn die Briten vom 1. Dezember 1945 bis zum 17. Mai 1947, doch kurz danach saß er wieder im Vorstand der Vereinigten Stahlwerke.

Cornelia Rauh-Kühne beschäftigt sich mit dem Aluminiumunternehmer Hans Constantin Paulssen (1892-1984). Nach einer Militärkarriere wurde er in den zwanziger Jahren Fabrikdirektor mehrerer Aluminiumwerke in Singen und Villingen. 1929 kam eine Leitungstätigkeit im Konzern der schweizerischen Aluminium Walzwerke AG Schaffhausen hinzu. Nach 1939 wurden diese Unternehmen unter der Leitung von Paulssen zum Konzern Aluminium-Industrie-Gemeinschaft Konstanz & Co. KG zusammengeschlossen. Paulssen wurde 1945 zunächst aus der Betriebsleitung entfernt, 1948 jedoch rehabilitiert. In der Folge nahm er führende Positionen in der Aluminiumindustrie ein und war seit 1954 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Der Aufsatz von Volker R. Berghahn informiert über den Gummihersteller Otto A. Friedrich (1902-1975). Der spätere Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (seit 1969) war von 1939 bis 1965 in einer Führungsstellung beim Harburger Gummiwaren- und Reifenhersteller Phoenix AG und danach bis zu seinem Tode als persönlich haftender Gesellschafter der Flick-Gruppe tätig. Das Jahr 1945 brachte für den Unternehmer weniger einen Einschnitt in der beruflichen Karriere als vielmehr eine tiefergehende persönliche Umorientierungskrise.

Paul Erker schreibt über den Flugzeugindustriellen Ernst Heinkel (1888-1958), den Begründer der Ernst Heinkel AG (Stammsitz Rostock). Als Pioniertechniker der deutschen Luftfahrt machte er unter dem Reichsluftfahrtminister Hermann Göring eine steile Karriere. Sein expandierender Konzern beschäftigte 1944 mit 33 Haupt- und Nebenwerken ca. 50 000 Arbeiter, darunter unzählige Zwangsarbeiter. Nachdem die Hauptwerke in Ostdeutschland und in Österreich nach 1945 enteignet wurden, fand er ein neues Betätigungsfeld beim Wiederaufbau der Luftfahrtindustrie in Süddeutschland.

Schließlich wendet sich Evelyn Kroker dem einflußreichen Bergbaumanager Heinrich Kost (1890-1978) zu. Er übernahm 1932 die Bergwerksanlage Rheinpreußen und avancierte in kürzester Zeit zu einem Top-Manager. 1947 verfügte die britische und amerikanische Militärregierung die Errichtung der Deutschen Kohlenbergbau-Leitung und berief den als politisch unbelastet geltenden Heinrich Kost zum Generaldirektor der neugeschaffenen Institution.

Die Aufsätze beschreiben die Biographien der genannten Akteure detailgetreu und geben Antworten auf viele Fragen: Wie wurde die deutsche Kriegsproduktion organisiert? Inwiefern waren die Industriellen mit dem Nationalsozialismus verstrickt? Welche Behandlung erfuhren die Zwangsarbeiter in den genannten Großbetrieben? Was bewirkte die westalliierte Entnazifizierungspraxis in der deutschen Industrie? Und wie gelang den Akteuren nach 1945 eine Fortführung ihrer beruflichen Karriere? Durch zahlreiche autobiographische Dokumente bieten die Studien Einblicke in die Befindlichkeit der deutschen Kriegs- und Nachkriegs-Unternehmergeneration.

Einleitend skizziert Erker drei zentrale Untersuchungsfelder: erstens die Sozialstruktur (Zusammensetzung, Karriere- und Rekrutierungsmuster), zweitens die generelle Beschaffenheit von politischer Einstellung, Denk- und Verhaltensweise und drittens der Einfluß politischen Systemwandels auf die Sozial- und Mentalitätsstruktur von Wirtschaftseliten. Erker meint, daß während der Machtergreifung der Nationalsozialisten kaum ein Wirtschaftsmanager das neue Regime unterstützt hätte, vielmehr hätten Skepsis, Reserviertheit und Ablehnung den neuen Machthabern entgegengeschlagen. Die anfänglichen Bedenken wurden aber rasch zugunsten eines Arrangements mit den sich verändernden Umständen aufgegeben. Wesentlicher Faktor für die Integration der Unternehmer in die neue nationalsozialistische Wirtschaftsordnung war der Umstand, daß das privatwirtschaftliche Eigentum und die personelle Zusammensetzung der Wirtschaftseliten weitgehend unangetastet blieben. Das neue Konzept der „Betriebsführer“ brachte zudem eine Aufwertung des Unternehmerstatus mit sich. Die Anpassungsbereitschaft der Industriellen wuchs mit deren Einsicht, daß die wirtschaftspolitischen Ziele des NS-Regimes mit eigenen betriebswirtschaftlichen Zielen konform liefen. Insbesondere bot die national- sozialistische Rüstungs- und Kriegspolitik ungeahnte Möglichkeiten der Produktions- und Profitsteigerung. Hinzu kam, daß die Arisierungsmaßnahmen lästige Konkurrenten aus dem Felde räumten.

Während des Zweiten Weltkrieges, vor allem nach ersten militärischen Rückschlägen, veränderte sich das Verhältnis von politischer und wirtschaftlicher Elite. Mit Amtsantritt des neuen Rüstungsministers Albert Speer wurde eine deutliche Umorganisation im Management der deutschen Rüstungsindustrie vorgenommen. Sukzessive wurde der allzu zögerliche, konservative und dadurch unbequem gewordene Typ des parteilosen Industrieführers durch den agileren und loyaleren Typ des „Parteibuchindustriellen“ ersetzt. Die Nationalsozialisten verstanden es geschickt, den Rahmen unternehmerischen Agierens und Gestaltens enger zu ziehen.

Nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands hatten die westlichen Besatzungsmächte die als Nazi-Industrielle fungierenden Unternehmervorstände zunächst unbehelligt gelassen. Erst im Herbst 1945 setzten Eingriffe in die Branchen- und Personalstruktur der deutschen Industrie ein, deren Ziel ein Austausch der am Regime und seinen Verbrechen mitschuldigen Wirtschaftseliten sein sollte. In mehreren Verhaftungswellen wurden führende Industrielle vorübergehend interniert; nach wenigen Monaten jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Die vorliegenden Fallstudien legen den Schluß nahe, daß die Art und Weise der Entnazifizierung äußert unwirksam blieb. Die westalliierten Maßnahmen erwiesen sich häufig als zufällig. Lediglich Unternehmer des Bankwesens, der Chemie- und Montan- industrie wurden einer größeren Entflechtung unterworfen, während die Eliten der Elektro- und Automobilindustrie weitgehend verschont blieben. Die Phase „personeller Ausschaltung“ durch Entlassung, Internierung und Entnazifizierung mit anschließendem Berufsverbot war spätestens seit 1947 vorbei, als alte Vorstandsvorsitzende, wie beispielsweise Wilhelm Zangen bei Mannesmann, auf ihre alten Posten zurückkehrten. Die „Industrie-Milieus“ hatten sich quer durch alle Branchen weitgehend immun gegenüber den alliierten Eingriffen erwiesen. Wenn zwischen 1945 und 1948/50 führende Wirtschaftsmanager ihre Posten verließen, dann zumeist aus Altersgründen.

Hinsichtlich möglicher Umdenkprozesse innerhalb der besprochenen Wirtschaftseliten kommt der Sammelband zu einem ernüchternden Ergebnis. Die Umbruchphasen der dreißiger und vierziger Jahre hatten bei den herausragenden Unternehmern keine länger wirkenden Lernprozesse herbeigeführt. Die Fallstudien unterstreichen die Kontinuität. Während Industrielle wie Heinkel, Sohl und Kost vor und nach 1945 im selben Unternehmen als Führungskräfte tätig waren, wechselten Paulssen, Friedrich und Nordhoff lediglich die Firmen, denen sie vorstanden. Insgesamt handelt es sich also um eine Unternehmerschicht, die wieder industrielle Führungs- und Schlüsselpositionen der frühen Bundesrepublik einnahm. Mit ihren alten Denkmustern und Verhaltensweisen war es der deutschen Industrieelite möglich, die Wiederaufbaujahre zu meistern und das sogenannte „Wirtschaftswunder“ zu vollbringen. Der rasch einsetzende Erfolg verhinderte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, wie es sich auch in der gegenwärtigen Debatte um die Entschädigung von früheren Zwangsarbeitern bestätigte. Paul Erker vermutet, daß es zwischen 1965 und 1975 einen „weit tiefergehenden, schmerzhafteren und vor allem tatsächlich erfolgten Lern- und Umdenkprozeß innerhalb einer Unternehmer-Generation“ gegeben haben könnte. Auf diese Hypothese gibt der vorliegende Sammelband allerdings keine Antwort.

Die vergleichende Untersuchung von Industrieeliten vor, während und nach dem Nationalsozialismus erweist sich als ein wichtiger Beitrag zur modernen Wirtschafts- und Unternehmergeschichte. Die biographischen Studien sind gut geschrieben und präsentieren in ausgewogener Art und Weise bislang unbekanntes Material. Zur besseren Übersicht hätte man die Aufsätze jeweils um eine Zusammenfassung grundlegender Arbeitsergebnisse und den Anhang um die Kurzbiographien der behandelten Akteure bereichern können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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