Eine Rezension von Reinhard Mocek
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Verpaßte emanzipatorische Chancen

Stefan Bollinger: 1989 - eine abgebrochene Revolution
Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR?
Gesellschaft - Geschichte - Gegenwart.
trafo verlag, Berlin 1999, 345 S.

Die nachdenklichsten Bücher über den historischen Abgang der DDR kommen, man möchte fast sagen naturgemäß, von den direkt Betroffenen. Nun hat es natürlich alle DDR-Bürger mehr oder weniger direkt betroffen, was sich da vollzog oder was sie zu nicht geringem Teil selbst mit vollzogen haben. Es spricht daher eine spezifische Betroffenheit aus Büchern wie dem vorliegenden, das man in seiner emotionalen wie gedanklichen Spannweite mit Fug und Recht den Reflexionen aus der Feder etwa von Wolfgang Engler oder Hans-Peter Krüger zur Seite stellen kann. Und diese ist wohl am besten zu umschreiben mit dem Begriff der Enttäuschung über den Ausgang einer gesellschaftlichen Umwälzung, die in ihrem friedlichen Charakter, ihren Dimensionen wie auch emanzipatorischen Chancen in der deutschen Geschichte ihresgleichen sucht. Doch auch die Enttäuschungen waren höchst unterschiedlich strukturiert. Bärbel Bohleys Verblüffung über die wahre Natur des Rechtsstaates, die dem Schwerte der Abrechnung so unerwartet hinderlich im Wege steht, bildete dabei so etwas wie den Umschlagspunkt von der Euphorie zur Tristesse. Die mit Unmut registrierte allmähliche Ausblendung der Bürgerrechtler unterschiedlichster Coleur aus den wirklich maßgebenden Instanzen in dieser nun eingetauschten Gesellschaft war die nächste traurige Einsicht; und schließlich wäre die allgemeine Enttäuschung über die tatsächlichen Segnungen der neuen rauhen Sozialwirklichkeit zu nennen. Und wie sieht die Enttäuschung aus, die auch aus Bollingers Zeilen spricht? Sie zielt im Grunde auf die auch von den SED-Reformern mit auf den Weg gebrachten und unterstützten demokratischen Potentiale des Runden Tisches und die auf seiner Grundlage plötzlich aufleuchtende Möglichkeit für „unbefangenes demokratisches Experimentieren“! Doch der bald schon im Nachwendejahr einsetzende nackte Überlebenskampf der DDR-Betriebe und der absehbare Zusammenbruch der ökonomischen Grundlagen für einen solchen Demokratieaufbruch führten schier unvermeidlich zum Kollabieren aller systemeigenen Ansätze für eine neue DDR. Man muß dabei gewiß zugestehen, daß dieser Unvermeidlichkeit durchaus auch ein Fragezeichen nachgestellt werden könnte - erinnert sei an die längst schon vorliegenden Reportagen über diese „zweite Enteignung der Ostdeutschen“, wie Rüdiger Liedtke und die in seinem Band versammelten Autoren ihre Abrechung mit der Treuhand bereits 1993 überschrieben haben.1 Oder wir erinnern uns an Fritz Vilmars Kolonisierungsvorwurf an die Adresse der Machttragenden in der Bundesrepublik. Aber bei Liedtke geht es um die unglaubliche Performance dieser Treuhand, nicht um den Nachweis, daß mit anderen ökonomischen Mitteln auf dem emanzipatorischen Wegen erfolgreich hätte weitergeschritten werden können. Insofern bleibt für die gedankliche Bewältigung dessen, was sich damals vollzogen hat und sich anders hätte vollziehen können, das meiste noch zu tun. Von einer gewissen unrealistischen Sicht auf diese Frage sind Bücher wie das vorliegende sicher nicht frei. Und dennoch ist die ganze Debatte um die Emanzipationspotentiale der Wendezeit frappierend, schilt sie doch das Eingetauschte, das nun Vorhandene, seinem Wesen nach als antiemanzipatorisch. Sie entlarvt damit die ach so hagestolze Selbstgefälligkeit, mit der nicht selten von außen über die DDR geurteilt wird - und das ist durchaus ein moralischer Gewinn für den Systemrest, dessen letzte Möglichkeiten, aber auch innere Gebrechen Bollinger in seiner glänzenden Analyse vielfältig abklopft. Und insofern ist seine Lektüre für alle diejenigen, die allmählich ungläubig werden gegenüber DDR-Rückblicken, die die Geschichte der DDR nur als einen „zwangsläufigen Weg zum Sturz eines verbrecherischen diktatorischen Regimes gegen das Volk“ interpretieren,2 mehr als nur ein bloßer neuer Sichtwinkel.

Alles in allem ein Buch, das zur kritischen Lektüre empfohlen sei. Kritisch sollte die Lektüre allein schon deswegen sein, weil man stets, wenn man mit dem Grundanliegen eines auch politiktheoretisch engagierten Buches sympathisiert, Gefahr läuft, die vielen Gegenstandspunkte zu vergessen. Und deren sind es in der Tat nicht wenige.

1 R. Liedtke (Hrsg.), Die Treuhand und die zweite Enteignung der Ostdeutschen. Edition spangenberg, München 1993
2 Siehe St. Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989. Wer damit eine andere Sicht vergleichen will, dem sei der zweibändige Sammelband „Alltag“ empfohlen, der im Auftrag der Bundestagsgruppe der PDS erarbeitet wurde: Ansichten zur Geschichte der DDR, Band 7 und 8, Bonn/Berlin 1997


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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