Eine Rezension von Volker Strebel

Gottesnarr mit böhmischem Naturell

Vladislav Vancura: Der Bäcker Jan Marhoul
Aus dem Tschechischen von Peter Pont.
Mit einem Vorwort von Eckhard Thiele und einem Nachwort von
Jaroslav Seifert.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, 207 S.

Im Heft 2 der Ostberliner Zeitschrift „Sinn und Form“ war dieser Roman bereits 1959 erschienen, der damalige Chefredakteur Peter Huchel hatte diesen Text als „sehr starke Prosa“ bezeichnet. Und diese starke Prosa hatte in der DDR durchaus ihre Leser gefunden. Von Reiner Kunze wissen wir, daß bei ihm neben den Gedichten von Jan Skácel oder Ludvik Kundera auch die Prosa von Vladislav Vancura einen prägenden Eindruck hinterlassen hat. In seiner Rede „Die Bücher der anderen“ zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Jahr 1995 führte Kunze ein Beispiel aus dem „Bäcker Jan Marhoul“ an: „Da bewegte sich der Kranke ein wenig, und die harte Hand wandte sich dem Sohn zu, wie sich eine Blüte der Sonne zuwendet. Schaufel und Rührkeule hatten der Hand das Mal der Schwere aufgedrückt, so daß die Finger halb gekrümmt waren und die Hand an eine Muschel erinnerte, aus der man die Perlen gestohlen hat.“ Der Reichtum an Bildern und Metaphern kennzeichnet diesen Roman, mit dessen Veröffentlichung im Jahr 1924 Vladislav Vancura der Durchbruch in der literarischen Szene gelang. Freilich war Vancura da kein gänzlich Unbekannter mehr. Seit 1920 war er der erste Vorsitzende der avantgardistischen Künstlervereinigung „Devetsil“ [Neunkraft], die ein vitalistisches, sinnliches Programm verkündete. Der „Poetismus“ gilt als eigenständiger tschechischer Beitrag zur europäischen Moderne.

Das übliche Genre des „Poetismus“ war die lyrische Dichtung, aber mit dem Roman Der Bäcker Jan Marhoul gelang es Vladislav Vancura zu zeigen, daß auch in der Prosa ein Netz von Bildern zu einem Text zusammengeführt werden kann. Im „Bäcker Marhoul“ werden Handlung und literarisches Verfahren nicht gegeneinander ausgespielt, sondern ergänzen einander. Eine horizontale Erzählerperspektive wird immer mit einer vertikalen Palette an Eindrücken komplettiert. Prosaische Handlung und poetisches Bild verbünden sich im Text zu einer ungewöhnlich angereicherten Sprachdichte: „Der Verwalter Cízek tritt in die Schankstube. Es war ganz still, und sein Gruß stand in der Lautlosigkeit wie ein Pfahl im Feld.“ Der Bäcker Jan Marhoul wird als gutmütiger Mensch geschildert, der sich redlich abrackert und doch keinen Erfolg vorweisen kann. Im Gegenteil: Er verliert seine Bäckerei und sein Häuschen in der Stadt Benesov und später auch eine Mühle, die er mit eigenen Händen neu hergerichtet hat. Zum Leidwesen seiner Frau Josefa, die lange an ihren Mann geglaubt hatte, ist Jan Marhoul kein Erfolg vergönnt. Den gesellschaftlichen Status, den er als Bäcker innegehabt hatte, verlor Marhoul durch eigenes Verschulden. Marhoul ist ein gutherziger, freigebiger Mensch, der anderen uneigennützig hilft und entgegen landläufiger Meinung eben keinen Dank dafür erntet: „Ein Ding auf das andere legen, Nutzen und Schaden, Erkenntnis und Ahnung - das war sein Dasein.“

Der Bäcker Jan Marhoul stellt keinen idyllisierten Trottel dar. Die herrschende Welt der Kleinstadt Benesov und ihre Einwohner werden kritisch und realistisch geschildert. Marhouls Güte hat eine tiefere Bewandtnis, wie Eckhard Thiele in seinem Nachwort treffend bemerkt: „Das wiederholte Scheitern ficht ihn nicht an, immer beginnt er von vorn und bleibt, was er ist: ein leibhaftiges Gegenbild zu der Welt, in der allzuoft Macht, Geld und Gemeinheit den Ton angeben. Ein Urgestein von einem Menschen, voll archaischer Lebenskraft und romantischer Träumerei. Er ist ein Gottesnarr mit böhmischem Naturell.“

Vladislav Vancura greift, als Mitglied der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, die er 1929 im Zuge der Stalinisierung allerdings verlassen hatte, die ewige soziale Problematik des Unterlegenen und des Satten auf. Und gleichzeitig kennzeichnen in keiner Weise ideologische Kategorien oder sozialkritische Vorgaben den Text. Der tschechische Nobelpreisträger von 1984, Jaroslav Seifert, der Vladislav Vancura gut kannte, nannte ihn in seinen Erinnerungen einen der größten tschechischen Schriftsteller und wies auf seinen unnachahmlichen Stil hin. Am 1. Juni 1942 wurde Vladislav Vancura im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen, die als Reaktion auf das Attentat des stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich das Land überzogen hatten, auf dem Prager Militärschießplatz Kobylisy erschossen. Als hätte man die Absicht gehabt, das tschechische Wort und dessen Gedächtnis zu liquidieren.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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