Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Ewige Fragen und „meschuggene“ Typen

Isaac Bashevis Singer:
Schatten über dem Hudson
Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke.
Carl Hanser, München 2000, 635 S.

Dies ist das vierzehnte Buch von Singer, das bei Carl Hanser seit 1974 erschienen ist. Die deutschen Ausgaben wurden sämtlich aus dem Amerikanischen übersetzt. Die vorliegende hat jedoch auch in dieser Hinsicht eine besondere Geschichte, was die Ausgangssprache betrifft. Singer, Träger des Nobelpreises für Literatur 1978, geboren 1904 im polnischen Radzymin, 1935 in die USA emigriert, starb 1991 in New York. Zu dieser Zeit gab es noch keine amerikanische, geschweige denn eine deutsche Ausgabe von Schatten über dem Hudson. Ursprung dieses „letzten“ Buches ist vielmehr ein Fortsetzungsroman, vom Autor in Jiddisch geschrieben und 1958/59 im Laufe von zwölf Monaten zweimal wöchentlich in der NewYorker Zeitung „Forverts“ veröffentlicht. Joseph Sherman von der University of the Witwatersrand hat den Roman ins Amerikanische übersetzt, so daß er 1998 erstmals als Buch bei Farrar, Straus and Giroux in New York erscheinen konnte.

Also nur scheinbar ein nachgelassenes Werk. Dennoch kann man diesen faszinierenden erdachten Bericht über jüdische Einwanderer im New York der Jahre 1947/48 als eine Art Vermächtnis sehen. Er ist durchaus zu verstehen als eine Art Mahnung an die Überlebenden des Holocaust und alle noch nicht assimilierten amerikanischen Juden, die Geschichte ihres Volkes nicht zu vergessen und ihre Jüdischkeit - so der übersetzte Begriff, der im Buch wiederholt verwendet wird - nicht aufzugeben.

Dieses Anliegen wird besonders deutlich am Schluß des Romans. Nachdem die Handlung fast abrupt zu Ende gegangen ist, obwohl einige Figuren gewissermaßen noch in Bewegung waren, wird ein Epilog in Briefform angefügt, undatiert, aber offenbar 1949 geschrieben, nach Gründung des Staates Israel. Der Verfasser, Hertz Dovid Grein, ist eine der Romangestalten, vom Autor als tragende Figur angelegt, auch am genauesten gezeichnet.

Grein ist jüngst aus den USA nach Israel eingewandert. Er schreibt einem Freund in New York, wie er nach der Begegnung mit den aufgeklärten Juden Israels in eine orthodoxe Gemeinde gegangen ist, wo er gesehen habe, „dass es doch noch Juden gibt“. Sie haben - es ist immer nur von den Männern die Rede - Bärte und Schläfenlocken und tragen Gewänder, an denen man sie schon von weitem als Diener Gottes erkennen könne. Auf diese scheinbar nur äußerliche Weise setzt nun auch Grein ein deutliches Zeichen. Es ist ein geläuterter, wenn auch keineswegs schon vollkommener Grein, der in den USA einst ein arger Sünder war, ein Hurenbock.

Und da ist der Begriff wieder, der sich - sparsam, aber erkennbar und bewußt verwendet - durch den Roman zieht: „Wer sich nur einen einzigen Schritt von der alten Jüdischkeit entfernt, der findet sich unter Götzenanbetern und Mördern wieder und zieht Kinder groß, die Nazis heiraten.“ Tatsächlich haben seine beiden Kinder in New York Gojim geheiratet, Nichtjuden, und die Tochter „hat sich einen Deutschen ausgesucht, dessen Brüder wahrscheinlich Nazis gewesen sind und Juden gezwungen haben, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln“.

Der alttestamentarische Zorn des fromm gewordenen Grein richtet sich wortgewaltig und wortreich gegen die Mehrzahl der Israelis, die dortigen aufgeklärten Juden, die zwar hebräisch sprechen, aber auf Schritt und Tritt die Gojim nachahmen. „O ja, das einzige, was die Juden hier wirklich unglücklich macht, ist, dass sie die Gojim nicht noch perfekter nachahmen können, als sie es so schon tun.“

Und Singer läßt seinen Grein noch eins draufsetzen: Die richtigen Bedingungen für richtige Juden seien ein fester Glaube und ein nimmer endendes Exil. „Nimmt man eine von diesen beiden Voraussetzungen weg, dann fällt die ganze Chose in sich zusammen. Ist der Glaube nicht mehr da, assimilieren sie sich, gibt man ihnen ihr eigenes Land, fangen sie genauso an, andere abzuschlachten, wie die Gojim.“

Es läßt sich denken, welch heftige Diskussionen in Israel, in den USA und unter den europäischen Juden solche Passagen ausgelöst haben und weiter bewirken, nachdem der Roman in Buchform erschienen ist. Er ist erschienen während einer seit 1949 andauernden, von Kriegen begleiteten israelisch-arabischen Konfrontation, die nicht erst seit gestern von einer militanten jüdischen Orthodoxie geschürt wird. Die wiederum findet auf arabischer Seite ihren kongenialen Gegner (der sich in der territorialen Frage allerdings auch auf einige Beschlüsse der UNO berufen kann).

Man täte jedoch diesem Buch Unrecht, wollte man es auf eine Kampfschrift in Sachen Jüdischkeit reduzieren. Das ist es keineswegs. Singer hält einer jüdischen Gesellschaft, die in den USA besteht und nicht nur in Glaubensfragen alles andere als homogen ist, einen Spiegel vor. Ja, er predigt dieser Gesellschaft, in der er seit 1935 lebt, Moral in Form eines meisterlichen Romans. Es ist ein Roman, in dem er - mitten in einer scharfen Anfangsphase des Kalten Krieges - menschliches Leben und Zusammenleben gestaltet, die Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit, Verletzlichkeit, egoistischer Unvollkommenheit zeigt. Der Egoist in jenem Grein beispielsweise, der in New York jahrelang ganz gut mit mehrfachem Ehebruch und schlechtem Gewissen zurechtkommt, „wollte am liebsten alles auf einmal sein: Jude und Goj, fromm und profan, Gebender und Nehmender“.

Als Menschen aus Fleisch und Blut sind auch die anderen Figuren angelegt, die im ehrlichen Disput oder unehrlichen Schweigen miteinander leben, sich gegenseitig achten und verletzen, lieben und hassen. Und Singer, der Autor von 1948, wundert sich über seine Mitjuden, die wie er der Vernichtung in Deutschland, in Polen, in der Sowjetunion entkommen sind - sie machen Geschäfte, als wäre rein gar nichts passiert, als hätte es die größte Katastrophe in der Geschichte der Judenheit nicht gegeben. Aber der Autor sieht auch, daß seine Leute diese Bedrohung, diese Vergangenheit nicht vergessen können. Sie ist der immerwährende Schatten über dem Hudson.

Und das ist die uralte biblische Frage, anklagend, zweifelnd: Wo warst du, mein Gott! Wo war Gott, fragt Singer, „wenn Seine Geschöpfe sich gegenseitig in Öfen verbrannten ..., als Väter dazu gezwungen wurden, ein Grab zu schaufeln für sich selbst und ihre Kinder? Wo war Er, der eifersüchtige, rächende Gott, jetzt, da England und Russland gemeinsam Deutschlands Wiederaufbau betrieben?“ Hätte Singer den Fortsetzungsroman nur etwas später geschrieben, wären auch und vor allem die USA in diesem Zusammenhang von ihm angeklagt worden.

Der Roman ist in diesem Punkt ein früher Beweis für das nicht enden wollende Unverständnis von Überlebenden des Holocaust und ihrer Nachkommen für die Nachkriegs-Deutschlandpolitik der einstigen Alliierten. Gleiche Bitternis gibt es bekanntlich bei anderen Opfern der deutschen Aggressoren angesichts eigener Armut. Dieses - gelinde gesagt - Unverständnis ist bei zahlreichen namhaften jüdischen Autoren zu bemerken. Jüngst zu lesen beispielsweise bei Staranwalt Dershowitz (Chuzpe. Autobiographie, Hamburg 2000), der, schon in den USA geboren und erzogen, ebenfalls sein Judentum betont und aus seiner Aversion gegen das Adenauer-Deutschland made in USA von 1949 wie gegen das größere Deutschland von 1990 kein Hehl macht.

Der gewissermaßen wiederentdeckte Roman von Singer fordert zur Auseinandersetzung mit unserer Welt heraus, die der Autor wegen ihrer zunehmenden Unkultur wiederholt als Unterwelt bezeichnet. Aber auch mit seinen Brüdern und Schwestern geht er nicht zart um - köstlich, wie er mit wenigen Strichen diverse „meschuggene“ Typen zeichnet, und an einer Stelle findet er sogar, sein ganzes Volk sei meschugge. Dieser Begriff nun bedarf wohl kaum der Erläuterung. Da aber viel von jiddischem Kolorit erhalten geblieben ist und zahlreiche religiöse Termini in dem Roman eine Rolle spielen, erweist sich ein ausführliches Glossar als nützlich.

Fast im Vorübergehen, aus einer wie zufällig erscheinenden Situation heraus, mit Hilfe seiner Romanfiguren oder aus Eigenem stellt Singer die ewigen Fragen nach Schuld und Sühne, Glauben und Wissen, Sexualität und Moral, Selbstverwirklichung und Rücksichtnahme, nach Vätern und Söhnen, auch nach der Rolle der Frau in Familie, Partnerschaft und Gesellschaft. Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, daß er den Leser nicht nur fordert, sondern ihm ebenso einen literarischen Genuß bereitet. Er nimmt uns unwiderstehlich mit in die riesige Stadt am Hudson, in der es eine kleine Welt der Davon- gekommenen zu entdecken gibt. Für sie hat Singer damals wohl in erster Linie geschrieben. Ihnen hat er für uns heute ein so menschliches Denkmal gesetzt, daß man beim Anschauen immer wieder große Augen bekommt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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