Eine Rezension von Ursula Reinhold

Aus Wolfgang Koeppens erzählerischer Werkstatt

Wolfgang Koeppen: Auf dem Phantasieroß
Prosa aus dem Nachlaß.
Herausgegeben von Alfred Estermann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 779 S.

Dieser Band enthält 170 Texte aus dem Nachlaß von Wolfgang Koeppen (1906-1996). Er stellt die bis ins hohe Alter anhaltende künstlerische Produktivität des Autors unter Beweis, womit die These vom verstummten Dichter als widerlegt gelten kann. Die Texte dokumentieren die Vielfalt seines erzählerischen Vermögens, das durch genaues Beobachten gestützt ist und von skizzenhaften Milieuschilderungen bis zu vielgestaltigen Erzählungen reicht, in denen er mit Pointen und mythologischen Bezügen arbeitet. Immer hat die autobiographische Erfahrung für ihn einen wesentlichen Stellenwert gehabt. Seine Prosa arbeitet mit realistischen Schilderungen und impressionistischen Mosaiken ebenso wie mit assoziativen Wortreihen und Satzgebilden, in denen er verschlungene Realitätsbezüge herzustellen sucht. Die hier vorgelegten Texte erlauben Einblicke in die Arbeitsweise Koeppens, der ständig an neuen Varianten seiner Erzählungen feilte, wodurch auch die veröffentlichten Texte ihm niemals als endgültig fertig galten, sondern in vielfachen Varianten vorhanden sind. Der verdienstvolle Band dokumentiert mit den Textvarianten und dem Nachweis der Satzvorlagen im Anhang diese Arbeitsweise und erlaubt es, die entstehungsgeschichtlichen Varianten zu rekonstruieren. Die Sammlung folgt dem chronologischen Prinzip, ordnet die Nachlaßtexte den Lebens- und Schaffensperioden des Autors zu und gestattet es so, Bezüge zu den veröffentlichten Werken und zur Lebenssituation herzustellen.

Die beiden ersten Teile umfassen die frühen Versuche aus der Zeit zwischen 1923-1927 und zwischen 1928-1933, als der aus Greifswald stammende Autor seine Heimatstadt verlassen hatte und in den Feuilletons von Berliner Zeitungen, dem „Börsen-Courier“ und anderen Blättern seine sozialen Skizzen und autobiographischen Impressionen zu veröffentlichen begann. Diese unter der Überschrift „Der schreibende Leser“ zusammengestellten Beiträge verraten die Adaptionsfähigkeit des Autors in bezug auf die moderne Literatur ebenso wie die Suche nach dem eigenen Ton. Koeppen lehnte die Nazis ab und ging 1933 nach Amsterdam, wo er bis 1939 blieb. In Interviews hatte er mehrfach von einem dort begonnenen und verschollenen Romanentwurf gesprochen. Bruchstücke dieses Vorhabens sind jetzt u. a. mit Die Jawang-Gesellschaft erstmalig publiziert. Sein Stoff führt ihn ins koloniale Reich nach Jawa. Andere, hier vorgestellte Texte sind dem Umkreis der in dieser Zeit veröffentlichten Romane Eine unglückliche Liebe (1934) und Die Mauer schwankt (1935) zuzuordnen. Aufschlußreich ist an einigen Texten der Zusammenhang, der sich zu neoromantischen Motiven herstellt, die auch in anderen Veröffentlichungen innerer Emigranten vorhanden sind. So die Polarisierung zwischen Innerlichkeit und Außenreiz und das Motiv der Faszination durch Schönheit. Daneben finden sich realistische Schilderungen von Amsterdam und seinem Seefahrermilieu. Die Texte aus dieser Zeit und aus den Jahren des Krieges bzw. der ersten Nachkriegsjahre sind den Überschriften „Der unbekannte Schriftsteller“ (1934-1941) und „Der einsame Erzähler“ (1945-1950) zugeordnet. Aus der Zeit der Rückkehr ins faschistische Deutschland, in der er sich nach eigener Aussage „beim Film unterstellte“, sind keine Arbeiten nachgewiesen. Die Texte, mit denen er nach 1945 begann, stellen die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in den Kontext des vorigen großen Krieges und geben atmosphärisch dichte Schilderungen vom Nebeneinander von Tod und Überleben, von Ruinen und Aufbau. Mitunter verarbeiten sie die geschichtliche Erfahrung im Lichte mythologischer Figuren, die die ewige Wiederkehr des Gleichen im aktuellen Geschehen aufscheinen lassen. Es ergibt sich kein erzählerischer Bezug zu dem Überlebensbericht eines Juden, den Koeppen in dieser Zeit unter dem Namen des Opfers und dem Titel Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch (1948) veröffentlichte. Seine Urheberschaft an diesem Buch wurde erst 1992 bekannt.

Die Erzählstücke dieser Zeit weisen dagegen auf seine drei großen Romane hin, in denen er den schwankenden Boden des beginnenden Wirtschaftswunders und der politischen Restauration auf faszinierende Weise festgehalten hat. Den Romanen Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Tod in Rom (1954) verdankt er vor allem seinen Ruhm, der durch die Reisebücher der folgenden Jahre vertieft wurde, so daß er 1962 den Georg-Büchner-Preis erhielt. Die im fünften Teil unter der Überschrift „Der erfolgreiche Autor“ (1951-1960) gesammelten Texte unterbreiten weitere Erzählstücke und Motivvarianten zu den Romanen. Der Textabschnitt „Der schweigende Romancier“ ( 1961-1986) versammelt eine Fülle von erzählerischen Stücken, die die Erfahrung der Wohlstandsgesellschaft auf der Grundlage verdrängter Vergangenheit im kritisch distanzierten Pathos antiker Bildlichkeit darstellen. Schon in dieser Zeit beginnt die erneute Annäherung an Autobiographisches, das für Koeppens Werk immer eine wichtige Quelle war. Es intensiviert sich in der letzten Lebensperiode zwischen 1987-1993, aus der es vielfältige autobiographische Texte, Varianten und Ansätze zu dem im Jahr 1976 erschienenen Buch Jugend gibt. Besonderen Stellenwert besitzen auch die verschiedenen erzählerischen Annäherungen an die Stadt Berlin und das Romanische Café als Inbegriff begehrten und in den Feuersbrünsten des Krieges verwehten Ruhms. Berlin wird hier zum Ort geschichtlicher Katastrophe, die Koeppens Existenz bestimmte und literarisch dennoch nicht festgehalten wurde. Es gehört zu den Defiziten dieser Schriftstellergeneration, daß die Zeit der NS-Herrschaft und des Krieges in den Büchern derer, die sie in Deutschland überlebten, kaum literarischen Niederschlag gefunden hat. Aber sie scheint wieder und wieder auf in Koeppens Texten: „... und ich floh in einer Nacht im November durch die Kanäle der Stadt, durch die dunklen Adern ihrer unterirdischen Kommunikation, über die stromlosen Schienen der Untergrundbahn, ich traf Hadesgespenster, die kleinen Herren der kleinen ohnmächtigen Zeitungen, geprügelte und verfolgte Politiker, verstummte Dichter, gefesselte Künstler und Bekanntschaften, die sich den Stern der Schande abgerissen hatten, die nicht ihre Schande war, wir waren in Schlafdecken gehüllt oder in Säcke, wir schützten das Gesicht mit feuchten Tüchern vor dem beißenden Rauch, wir waren im Purgatorium zwischen Wittenbergplatz und Zoologischen Garten, ein Verleger stolperte über Schotter und Schwellen und sagte, sie werden das schreiben, und ich dachte, ich werde es schreiben, und wußte, daß ich starb, in dieser Zeit, in diesen Jahren, auch wenn ich nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt oder erschossen, über uns loderte die Stadt, brauste der Feuersturm, ich stieg aus dem Schacht, der Turm der Kirche war zerschmettert, und das romanische Haus mit dem Romanischen Café glühte, als leuchtete im Sieg die Oriflamme eines geheimen Vaterlandes.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite