Eine Rezension von Hans-Rainer John

Kleine Geschichten groß dimensioniert

Raymond Carver:
Würdest du bitte endlich still sein, bitte
Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus.
Berlin Verlag, Berlin 2000, 328 S.

Raymond Carver (1938-1988) gilt als Amerikas herausragender Erzähler, bei uns ist er noch wenig bekannt. Sein Ruf gründet auf diesem Band Erzählungen, der 1976 erschien und ihn mit einem Schlage durchsetzte und populär machte: 22 Geschichten im Umfang zwischen zweieinviertel und 27 Druckseiten.

Erst jetzt, 24 Jahre später, liegt die Sammlung erstmals vollständig in deutscher Sprache vor. (Auf der Grundlage von neun dieser Erzählungen entstand übrigens das Drehbuch zu Robert Altmans Film „Short Cuts“, der 1993 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet wurde.)

In der Titelgeschichte nehmen wir zunächst an dem ungetrübt glücklichen Leben teil, das Ralph und Marian mit ihren Kindern führen. Nur eine klitzekleine Frage arbeitet in Ralph: Was ist geschehen, als Marian vor mehreren Jahren eine Party mit seinem Freund Mitchell verließ? Drei Stunden brauchten die beiden, um Nachschub zum Trinken zu besorgen. Nun könne sie es doch sagen, meint Ralph, es sei doch so lange her, der Kontakt zu Mitchel längst abgerissen, man liebe sich doch, warum nicht darüber reden? Als Marian den unbedachten und leichtherzigen Seitensprung gesteht, bricht dann aber doch eine Welt für Ralph zusammen. Er verläßt die Wohnung, sumpft die Nacht herum, wird von Straßenräubern zusammengeschlagen. Als er früh zurückkehrt, wird er von den ahnungslosen Kindern vereinnahmt. Letzter Fluchtpunkt ist das Badezimmer, in dem er sich einschließt und an dessen Tür bald verzweifelt die liebende und besorgte Gattin trommelt. Und just da fällt der Satz: „Würdest du bitte endlich still sein, bitte.“ Erst nach langer Pause kriecht er ins Bett, und Marian legt sich still neben ihn. Ihre Hand wandert über seinen Körper, und er „staunte über die unmöglichen Veränderungen, die, wie er spürte, über ihn kamen.“

In „Was ist denn“ ist Leo bankrott, und ehe der Gerichtsvollzieher kommt, muß noch schnell das Kabrio, ein Relikt aus besseren Tagen, verkauft werden. Leo schickt seine Frau Toni los, das zu erledigen, denn sie ist raffinierter, hat Persönlichkeit und Durchsetzungsvermögen, während er seinen Kummer in Whisky zu ertränken sucht. Der gilt nicht nur dem geliebten Auto oder dem bedenkenlosen Leben auf Pump, das sich nun rächt, sondern im Verlauf des Abends und der Nacht entwickelt sich auch das Bild einer Ehe, die offensichtlich längst der Härte des Alltags zum Opfer gefallen ist. Dem Mann wird klar, daß er gern tot wäre. Als Toni am Morgen lallend und schwankend heimkehrt, hat sie zwar den Wagen verkauft, aber auch ihren Mann, dessen sie überdrüssig ist, mit dem Gebrauchtwagenhändler betrogen.

Fast immer werden eheliche Beziehungen analysiert und auf ihre Belastbarkeit hin getestet. In „Zeichen“ ergeben sich bei Wayne und Caroline, die sich ausnahmsweise einmal den Besuch eines Nobelrestaurants leisten, im Verhältnis zu den Kellnern, Speisen und Getränken Lebenshaltungen, die nicht zueinander passen und eine gemeinsame Perspektive fragwürdig erscheinen lassen. Mitunter beobachten auch Ehepaare andere Leute und kommen dabei zu neuen Einsichten, was die eigenen Beziehungen zueinander angeht. In „Nachbarn“ ergibt sich das bei Bill und Arlene, als sie gebeten werden, die Wohnung der Nachbarn zu betreuen, während die auf einer Ferienreise sind, die sich Bill und Arlene nicht leisten können. Und in „Allein der Gedanke“ beobachten Vern und seine Frau, wie ein Nachbar regelmäßig in den Garten geht, um, ins Schlafzimmer luxend, seiner Frau beim Auskleiden zuzusehen ...

Aber nicht alle Geschichten folgen diesem Grundmuster. In „Fahrräder, Muskeln, Zigaretten“ erntet Evan Hamilton die etwas unbeholfene, nichts desto trotz aber rührende Liebeserklärung seines Sohnes Roger, weil er, der an sich ein sehr zurückhaltender Mensch ist, sich um seines Sohnes willen sogar in eine Schlägerei verwickeln ließ. Und hinter „Warum, mein Schatz?“ verbirgt sich der erschütternde Brief einer Mutter, die über ihren Sohn schreibt, den sie liebevoll und verantwortungsbewußt aufzuziehen bemüht war, der sie aber grenzenlos enttäuschte, weil er ihr niemals die Wahrheit gesagt, sie belogen, betrogen und verlassen hat und sich seither nicht um sie kümmerte. Er macht ihr so sehr Angst, daß sie Namen und Wohnort gewechselt hat, um unauffindbar zu sein. Der Sohn ist nämlich in die Politik gegangen, von Stufe zu Stufe aufgestiegen und wurde schließlich als Gouverneur in eines der höchsten Ämter des Landes gewählt. Eigentlich müßte sie stolz sein auf ihn, tatsächlich aber verkriecht sie sich voller Furcht, identifiziert zu werden.

Carver wird auch als Amerikas Tschechow apostrophiert. Ich weiß nicht, ob das auf tiefem Verständnis von Tschechow beruht. Es ist wohl richtiger zu sagen, daß Carvers Erzählungen selbst zum neuen Muster ihrer Form geworden sind. Sie handeln von durchschnittlichen, kleinen, unheroischen Leuten, die zwischen 30 und 40 Jahren alt sind, die zu viel trinken und kaufen, und mit denen streiten, die sie lieben, die Angehörige verlassen oder die verlassen werden oder deren Leben anderswie in die Sackgasse geraten ist. Verlierer und Verlorene stehen im Vordergrund. Es gibt kaum große theatralische Gesten oder Aktionen von Endgültigkeit, anstelle dessen stehen eher innere Vorgänge, die davon künden, daß hier etwas zerbricht. Man redet zwar miteinander, aber das Beredteste ist das Schweigen zwischen den Sätzen. (John Updike sprach von Carvers Fähigkeit, „die Dinge in ihrem Schweigen zum Sprechen zu bringen“.)

Diese Leute werden vom Autor mit unendlicher Aufmerksamkeit, Sympathie, ja sogar Zärtlichkeit beschrieben, aber ohne jede Verklärung. Immer geht es vordergründig um ganz alltägliche Handlungen und Beziehungen, und alles ist detailliert beobachtet, genau erfaßt, realistisch geschildert, und doch ist es von weit tieferer Bedeutung, als es zunächst den Anschein hat: Die zweite Dimension ist sozusagen mit eingeschrieben. In einfacher Handlung wird eine ungeheure Skala an Gefühlszuständen und Entscheidungssituationen durchmessen.

Auffällig ist die Knappheit der Texte, die Sparsamkeit der Mittel, die Ökonomie des Stils. Man sagt, das habe der Lektor Carvers veranlaßt, der unerbittlich den Rotstift schwang. Im Ergebnis wird jeweils ein Stück wirkliches Leben sehr unmittelbar wiedergegeben, aber destillierter, bedrängender, eindringlicher, als man es gewohnt ist, und vieles bleibt auch in der Schwebe, unausgesprochen, wird der Phantasie und dem Urteilsvermögen des Lesers überantwortet. Manchmal allerdings scheint das Material des Autors nicht auszureichen. Da wirkt es wie ein Bruchstück, unvollendet, und es gibt zu wenige Hinweise, wie der Leser Vorgänge einordnen, beurteilen oder gedanklich zu Ende führen soll.

Auf jeden Fall zählt Carver unbestreitbar zu den Großen der amerikanischen Literatur, was ihm ja auch die Mitgliedschaft in der American Academy of Arts and Letters eingebracht hat. Da sich bei uns immer noch wenig mit seinem Namen verbindet, erwies es sich als zweckmäßig, dem Band einen 30seitigen Essay seines Freundes Richard Ford („Der Unabhängigkeitstag“) beizufügen, der warmherzig mit dem Autor vertraut macht. Carver starb im Alter von 50 Jahren an Lungenkrebs und hinterließ neben umfangreichem lyrischem Schaffen drei weitere Bände mit Erzählungen, die noch der Übersetzung harren: What we talk about when we talk about love (1981), Cathedral (1983) und Where I'am calling from (1988).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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