Eine Rezension von Rainer Jahn

Erotische Passion mit Umschlag zum Alltagskrimi

Lisa Appignanesi: In der Stille des Winters
Roman.
Aus dem Englischen von Wolf-Dietrich Müller.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 416 S.

Die ganze Geschichte wird von Pierre Rousseau erzählt, der als Journalist in der Welt herumgekommen und müde geworden ist und der nun im Winter 1989 in Sainte-Anne, in der französischsprachigen Provinz Kanadas, die Anwaltskanzlei seines Vaters übernommen hat. Eines Morgens wird er von Mme. Tramblay aus dem Bett geholt - ihre Enkelin Madeleine Blais, eine weltberühmte Schauspielerin, hängt am Strick in der Scheune. Erst vor kurzem ist sie von Hollywood, wo sie filmte, wieder nach Kanada gekommen, um in Montreal als Hedda Gabler aufzutreten. Nun, es war nicht der erwartete strahlende Erfolg, zudem war Madeleine deprimiert und erschüttert, weil sie zufällig auf dem Campus in ein blutiges Attentat geraten war (ein Geistesgestörter schoß 14 Studentinnen nieder), auch fühlte sie sich selbst ein wenig verfolgt - aber Gründe für einen Selbstmord sind das kaum. Mme. Tramblay fordert deshalb von der Polizei, den Mörder zu finden, hinter dem Rücken bittet sie Pierre, die Tagebücher Madeleines sicherzustellen und selbst ein paar Recherchen anzustellen.

Das ist der Ausgangspunkt für Pierres Reise in die Vergangenheit, die die Geschichte einer großen erotischen Passion enthüllt. Pierre ist eben nicht nur oberflächlich mit der Toten bekannt, wie man anfangs annimmt, jede Station seiner Nachforschungen ist Anlaß für Erinnerungen, am Ende ergibt sich das Bild einer Ehe, die auf dem Papier zumindest noch immer besteht. Am Anfang war da die große, aufregende, sinnliche Liebe zwischen Madeleine und Pierre, aber dann trat Pierres wahnsinnige, zerstörerische Eifersucht hinzu, die sich weder mit Madeleines Filmarbeit noch mit ihrem leichtlebigen Umgang mit Regisseuren und Schauspielkollegen abfinden wollte. Angesichts seiner extremen Besitzansprüche war die eheliche Gemeinschaft nicht zu retten (wiewohl es auch keine offizielle Scheidung gab), auch führte die Arbeit das Paar auseinander: Pierre wurde von seiner Redaktion nach Frankreich, Nordafrika und Ottawa geschickt, und Madeleine filmte in Paris und Hollywood. Nie aber erkaltete Pierres Leidenschaft und Bewunderung für Madeleine; er richtete auf dem Dachboden seines Hauses ein Museum mit Filmen, Fotos und Plakaten ein, verfolgte sie mit einer anonymen Briefserie, hoffte auf Begegnungen und Aussprachen. Er wurde, obwohl bei Frauen beliebt, ein einsamer, verlorener Mensch. Jetzt, da es zu spät ist für Liebe und Begehren, erfährt er erschüttert, daß ihrer Beziehung eine Tochter entstammt ...

Diese bittersüße Story wird von Lisa Appignanesi, die in Polen geboren wurde, in Frankreich und Kanada aufgewachsen ist und heute in London lebt, nicht ohne schriftstellerische Raffinesse, mit intellektuellem Anspruch und auf beachtlichem sprachlichen Niveau erzählt. Wie sich aus einzelnen Segmenten erst nach und nach kaleidoskopartig ein Bild des Ganzen ergibt, das hat schon seinen Reiz. Da schwingt etwas vom Klang eines Liebesliedes mit - auch wenn oder gerade weil die Protagonisten Menschen mit Fehlern sind und keine Muster ohne Wert -, und etwas von der Winterlandschaft, auf die der Buchtitel anspielt, wird fühlbar, wo Schnee das Geröll verdeckt. Aber leider glaubte die Autorin, die Geschichte nicht zu Ende führen zu können, ohne auf Elemente des alltäglichsten Krimis zurückzugreifen. Da geht nachträglich der Tatort in Flammen auf, Autos werden verfolgt und von der Straße gedrängt, Wohnungen verwüstet, die Lieblingskatze abgestochen - alles gängige Motive. Der Polizeikommissar will Täter überführen, indem er Szenen nachstellen läßt - recht schwerfällig das Ganze. Eine Menge Leute treten auf, die - bis auf Name und Funktion - gestaltlos bleiben; und wer Leben, Profil und Biographie erhält wie der Gastronom Giorgio Napolitano oder der Priester Jerome, der bleibt ohne Bedeutung für die Handlung. Zwei kompetente Leute halten Pierre für den Mörder - das ist ihre Dummheit, zumal Indizien fehlen. Aber warum legt Pierre ein (falsches) Geständnis ab? Und wer war der Mörder nun überhaupt? - Die Lösung des Rätsels ist so geschmacklos und banal, wie das Leben zwar manchmal tatsächlich ist, aber wirkliche Literatur ist das gerade nicht. Was geheimnisvoll begann und sich poetisch entwickelte, das endet leider enttäuschend und vulgär. Schade.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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