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Cristina Tudorica

„Das Universum ist Asche, die
sich wandelt und deren Sinn
keiner versteht ...“1

Kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag schreibt Emil Cioran (1911-1995) an seinen Bruder Aurel: Versuch, bitte, das für mich so peinliche Ereignis vom 8. April vor unseren Freunden geheimzuhalten. Ich befürchte eine Flut an Glückwünschen in der Art: „noch viele Jahre“ etc. Ein Österreicher hat die Indiskretion begangen, in den deutschen Zeitungen zu schreiben, daß ich meine 70 Jahre bald feiern (!) würde. Gott sei Dank wird in Frankreich diesen deprimierenden Zahlen keine Aufmerksamkeit geschenkt. In den germanischen Ländern ist hingegen der Sinn des Lächerlichen nicht sehr weit entwickelt.
(Brief 407 vom 16. März 1981)
Im April wäre Emil Ciorans 90 Jahre alt geworden, jener Philosoph, dem der Gedanke, sich jeden Augenblick das Leben nehmen zu können, die Kraft zum Weiterleben gab.

Geboren wird Cioran in Rasinari, einem kleinen Bergdorf in Transilvanien, einige Kilometer von Hermannstadt entfernt. Der Ort ist eine der ältesten rumänischen Siedlungen Transilvaniens und bestand schon, lange bevor sich die Sachsen im 13. Jahrhundert im „Land jenseits der Wälder“ niederließen. Sein Vater ist der orthodoxe Dorfpfarrer. Die Eltern besitzen einen Obstgarten, der an den kleinen Bergfriedhof grenzt. Der Junge ist mit dem Totengräber gut befreundet; dieser gibt ihm manchmal ausgegrabene Schädel, mit denen er und die anderen Jungen Fußball spielen.

Der mythische Raum der Kindheit wird mit den Jahren immer deutlichere Konturen annehmen. Monographien und Bilder aus Rumänien oder Reiseeindrücke von Freunden, die das Land vor kurzem besucht haben, lösen bei dem in Frankreich lebenden Cioran Rückblicke aus.

So schreibt er zum Beispiel an Wolf Eichelburg am 8. November 1976 aus Paris:

Lieber Freund,
ich betrachte die zwei Bilder mit den Bauernhäusern. Tausende Erinnerungen stürzen auf mich ein, denn ab einem gewissen Alter übt die Kindheit eine Art nostalgische Aggression auf den Menschen aus, den „historische Umstände“ - wie man das hier so sagt - von seinen Ursprüngen weggerissen haben.
(Brief 525)

Die Kindheit ist - als verlorenes Paradies - nicht nur ein Ort der Sehnsüchte, sondern auch der magische Raum, in dem unerfüllte Wunschvorstellungen noch wahr werden können. Cioran hegt bis spät ins Alter die Hoffnung, die Dorfstraßen von Rasinari oder den Sadu-Fluß wiederzusehen. Er behält den Friedhof in lebhafter Erinnerung, jedes einzelne Grab und sogar den sonnigen Morgen, an dem ihn - herzzerreißend und banal - die Grabinschrift eines grasüberwucherten Holzkreuzes begrüßte: „Das Leben ist Hoffnung, der Tod Vergessen“. (Brief 75) Als er erfährt, daß ein Gutshof in der Nachbarschaft des elterlichen Hauses zerstört wurde, gesteht er, daß das der einzige Ort in der Welt gewesen sei, wo er sich im Alter gerne zurückgezogen hätte: Er (der Gutshof, Anm. CT) hatte Poesie, schreibt er seinem Bruder, und einen Zauber, der mich an die Welt Turghenievs erinnerte. (Brief 227 vom 3. Dez. 1973)

Rasinari bedeutet aber auch die Bindung an eine kleine, unbekannte Kultur, deren Rahmen es für Cioran später zu sprengen galt. Einerseits hat er das Gefühl, seine Ursprünge, die für immer in der fernen Heimat bleiben werden, zu verraten. Andererseits sind es gerade diese Ursprünge, um deren Überwindung er sich zwanghaft bemüht, damit er nicht für immer ein Provinzieller bleibt, ausgeschlossen vom Geschehen der großen Kulturen. Den inneren Widerspruch zwischen Bindung und Freiheit wird er bis an sein Lebens- ende nicht lösen.

So heißt es zum Beispiel in einem Brief an den Jugendfreund Bucur Tincu vom 26. März 1973:

Ich habe Dir bereits öfter geschrieben, daß dieses Dorf (und Hermannstadt, versteht sich) das einzige ist, das ich gerne einmal wiedersehen würde. Alles andere ist mir völlig fremd geworden. Allein unsere Kindheit hat - von allen Erinnerungen - den Schiffbruch überlebt (...) Wie gerne würde ich Gasse um Gasse, Ecke um Ecke, dieses verdammte, dieses wunderbare Rasinari wiedersehen wollen und den Tag mit Dir in einer Kneipe beenden, wenn es so etwas noch gibt. (Brief 626)

Als Cioran zehn Jahre alt wird, schicken ihn die Eltern aufs Gymnasium ins benachbarte Hermannstadt. Drei Jahre später zieht die Familie nach, weil der Vater zum Erzpriester ernannt wurde.

1928 schreibt sich Cioran - siebzehnjährig - auf der Hochschule für Literatur und Philosophie ein. Zu dieser Zeit ist er bereits ein unermüdlicher Leser. Während der Studienjahre beschäftigen ihn vor allem deutschen Philosophen, wie Schopenhauer und Nietzsche, oder Kierkegaard. Er liest, um zu vergessen, um sich selbst zu vergessen. Das Lesen wird über die Jahre seine große Leidenschaft bleiben. Er sieht darin eine Möglichkeit, die Lebenseinstellung, die Vision eines anderen zu verstehen. Gleichzeitig begreift er das Lesen als Fahnenflucht, als Befreiung vor dem eigenen Ich. In seiner Jugend, so Cioran, nutzt er auch andere Möglichkeiten, sich selbst zu vergessen. Er betrinkt sich oft oder besucht die Dirnen. Allein dem Lesen bleibt er ein Leben lang treu.

Diese Beschäftigung wird zum Teil durch Schlaflosigkeit gefördert, die eine enorme nervliche Anspannung verursacht. Cioran behauptet, in frühester Jugend begriffen zu haben, daß das Leben nur dank des Schlafes erträglich ist. Nach der Unterbrechung durch den Schlaf fängt der Mensch jeden Morgen das Abenteuer eines neuen Tages an. Dagegen hebt die Schlaflosigkeit den Zustand der Bewußtlosigkeit auf, so daß man vierundzwanzig Stunden am Tag nüchtern bleibt. Das kann der Mensch nicht ertragen. Nur das Vergessen macht das Weiterleben möglich: Man muß täglich vergessen, damit am nächsten Morgen die Illusion eines neuen Lebens wiederbeginnen kann. Die Schlaflosigkeit zwingt einen zur Erfahrung der ununterbrochenen Nüchternheit, zur Erfahrung des Bewußtseins.

Cioran bezeichnet die Zeit seiner großen Schlaflosigkeit als gewaltige Erfahrung: Er war zwanzig und irrte nächtelang durch die Straßen von Hermannstadt. Damals habe er den Hochmut der Nüchternheit entwickelt, der ihn nie mehr verlassen sollte. Als er anfängt, sich ernsthaft mit der Philosophie zu beschäftigen, reizt ihn das Bewußtsein - das Bewußtsein als Verhängnis - am meisten. Um diese Frage kreisen alle seine Gedanken, sie steht am Anfang und am Ende seiner Philosophie.

1932 beendet Cioran sein Studium mit „magna cum laude“ und schreibt sich sofort als Doktorand ein, nicht, um wirklich eine Dissertation zu verfassen, sondern um ein Auslandsstipendium zu bekommen. In der Zeit zwischen 1934-1949 veröffentlicht er sechs Bücher in Rumänien und ist auch journalistisch tätig.

Zwischen 1934-1935 verbringt er drei Semester als Humboldt-Stipendiat in Berlin und München, 1936 unterrichtet er ein Jahr Philosophie an einem Kronstädter Lyzeum, um dann 1937 tatsächlich mit einem Stipendium des Französischen Instituts nach Paris zu gehen.

Die Zeitspanne der dreißiger Jahre und die damals verfaßten Schriften lösten - bedingt durch Ciorans rechts-orientierte Auffassungen - nach seinem Tod zahlreiche Diskussionen in den französischen Medien aus, die häufig mit der Auseinandersetzung um Heidegger Ende der achtziger Jahre verglichen werden.

Diese Haltung war eng verknüpft mit den politischen und historischen Entwicklungen im Rumänien der dreißiger Jahre. Der erste Schritt zur territorialen Einheit des modernen Rumänien war 1859 vollbracht worden, als die Fürstentümer der Moldau und Walachei miteinander vereinigt wurden. Erst 1918 entstand der Nationalstaat, Großrumänien genannt, der zum erstenmal neben Transilvanien auch alle anderen von rumänischer Bevölkerung bewohnten Gebiete umfaßte. Er blieb in dieser Form nur in der Zwischenkriegszeit erhalten, weil die Gebietsverluste nach dem Zweiten Weltkrieg seine Einheit endgültig zerstörten.

Das Schicksal Rumäniens wurde von jeher von der geopolitischen Lage im Spannungsfeld dreier Großmächte bestimmt: Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das zaristische Rußland. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte dieses kleine Volk mit einemmal alle Zwänge und Abhängigkeiten abwerfen. Sein Territorium wurde vom Schlachtfeld der Geschichte zum politisch anerkannten Nationalstaat. Nun konnte das Land sein Gesicht aus dem Nebel der Geschichte befreien und es der Welt zeigen.

Die junge intellektuelle Elite setzte es sich zum Ziel, den Menschen dieses neuen Landes ein nationales Selbstbewußtsein und eine neue Identität zu schaffen. Die anfänglich vielversprechenden Aussichten einer rechtsorientierten Politik erwiesen sich als bittere Täuschung. Laut eigener Aussage jung, hochmütig und verrückt, war Cioran wie viele andere von einer Art Wahnsinn ergriffen. (Brief 433 vom 5. Okt. 1971)

In den Briefen an seinen Bruder Aurel setzt sich der Philosoph wiederholt mit diesem Abschnitt seiner Vergangenheit auseinander. So schreibt er zum Beispiel am 2. November 1973: Mir kommt die Zeit, in der ich „Die Verklärung Rumäniens“ schrieb, unglaublich weit entfernt vor. Ich frage mich manchmal, ob tatsächlich ich den Irrsinn geschrieben habe, der immer wieder zitiert wird. (Brief 223)

1990, als Die Verklärung Rumäniens - das in diesem Zusammenhang umstrittenste Buch Ciorans - mehr als ein halbes Jahrhundert später in Rumänien zum erstenmal seit der Zwischenkriegszeit wiedergedruckt wird, versieht er es mit folgenden einleitenden Worten:

Ich habe diese Betrachtungen in den Jahren 1935-36, im Alter von 24 Jahren mit Leidenschaft und Hochmut geschrieben. Von allem, was ich in rumänischer und französischer Sprache veröffentlicht habe, ist dieser Text vielleicht der leidenschaftlichste; zugleich ist er mir am meisten fremd. Ich finde mich darin nicht wieder, obwohl mir meine damalige Hysterie offensichtlich erscheint. Ich hielt es für meine Pflicht, einige anmaßende und stupide Seiten zu entfernen. Diese Ausgabe ist endgültig. Niemand hat das Recht, sie zu ändern.

E. M. Cioran
Paris, 22. Februar 1990

Trotz der eigenen Aussagen in Gesprächen und Briefen und trotz kontroverser Äußerungen seiner Anfechter und Verteidiger fällt es schwer, Corians Position bezogen auf diesen Themenkomplex im Wandel der Jahre objektiv zu beurteilen. Mit Sicherheit wirft die Persönlichkeit Emil Ciorans eine grundlegende Frage auf, die sich nicht nur für die Intellektuellen Rumäniens in der Zwischenkriegszeit stellt, sondern gleichermaßen für die geistige Elite Europas gilt: Wie war es möglich, daß eine Politik, der sich Intellektuelle von Format angeschlossen haben, sich als absoluter Irrweg erwiesen hat?

Cioran lebt ab 1937 in Frankreich und schreibt dort sein sechstes und letztes Buch in rumänischer Sprache, das er 1945 beendet: Leidenschaftlicher Leitfaden erscheint in Rumänien erst 1991 und in deutscher Übersetzung 1996.

1947 hat Cioran mit einemmal die Eingebung, sich von seiner Muttersprache zu trennen, um künftig nur französisch zu schreiben. Der Sprachwandel ist gleichzeitig ein Identitätswechsel: Cioran trennt sich von seiner Vergangenheit, von seiner alten Identität und damit auch von der „kleinen Kultur“ und den ihr inhärenten Komplexen. Mit der Entscheidung für die neue Sprache betritt er das Terrain einer großen, etablierten Kultur.

Sein erstes französisches Buch, Précis de décomposition, schreibt er mit einem enormen Wissensaufwand dreimal um. Er empfindet die französische Sprache als Korsett, das seinen Wahnsinn mäßigt und ihn zu einer sprachlichen Disziplin zwingt, deren Auswirkungen er als therapeutisch empfindet. Die enthusiastischen Ausbrüche der Jugend sind nunmehr gebändigt. In seinem Buch Geschichte und Utopie gibt Cioran Auskunft über die Art, wie sich der Wandel vollzog:

Du schreibt mir aus dem Lande, das einmal unser war und nun keinem mehr gehört. Du drängst mich, Dir nach so vielen Jahren des Schweigens Einzelheiten über meine Beschäftigungen mitzuteilen, und über diese „wundervolle Welt“, in der, sagst Du, ich das Glück habe zu wohnen und herumzukommen. Ich könnte antworten, daß ich ein beschäftigungsloser Mann bin und daß diese Welt gar nicht wundervoll ist. Doch eine so lakonische Antwort würde trotz ihrer Richtigkeit weder Deine Wißbegier stillen noch den vielen Fragen, die Du mir vorlegst, Genüge tun. Besonders betroffen hat mich eine von ihnen, die schon fast einem Vorwurf gleichkommt. Du möchtest wissen, ob ich die Absicht hege, eines Tages zu unserer eigenen Sprache zurückzukehren, oder ob ich der anderen treu zu bleiben gedenke, in welcher Du mir ganz unbegründeterweise eine Leichtigkeit unterstellst, die ich nicht habe und nie haben werde. Es käme dem Bericht eines Alptraums gleich, wollte ich Dir im einzelnen die Geschichte meines Verhältnisses zu diesem geliehenen Idiom erzählen, zu allen diesen durchdachten und immer wieder durchdachten Wörtern, die bis zur Nichtexistenz verfeinert, verdünnt, unter das Joch der genauen Nuance gebeugt wurden, ausdruckslos, weil sie schon alles ausgedrückt haben, erschreckend in ihrer Präzision, mit Müdigkeit und Scham beladen, diskret noch in den Bereich des Vulgären. Wie soll eine Skythe sich ihnen anpassen, wie soll er ihre klare Bedeutung erfassen und sie gewissenhaft und rechtschaffen handhaben? Da ist kein einziges, dessen ausgelaugte Eleganz mir nicht ein Schwindelgefühl verursacht: nirgends mehr an ihnen eine Spur von Erde, von Blut, von Seele. Eine Syntax von einer solchen Steifheit, einer so leichenhaften Würde hält sie umklammert und weist jedem seinen Ort an, daß Gott selbst sie nicht mehr umquartieren könnte. Welcher Verbrauch an Kaffee, Zigaretten und Wörterbüchern, um auch nur einen einigermaßen richtigen Satz in dieser unnahbaren, für meinen Geschmack allzu noblen, allzu distinguierten Sprache schreiben zu können!

Leider bemerkte ich das erst nachträglich, als es schon zu spät war, mich von ihr zu lösen; sonst hätte ich die unsere nie aufgegeben, nach deren Geruch von Frische und Fäulnis ich mich manchmal zurücksehne, nach diesem Gemisch von Sonne und Kuhmist, dieser wehmütigen Häßlichkeit, dieser prachtvollen Schlamperei. Zu ihr zurückkehren kann ich nicht, die andre, die ich an ihrer Stelle annehmen mußte, hält mich fest und unterjocht mich noch durch ihre Mühen, die sie mich immer wieder kostet. Bin ich ein „Renegat“, wie Du mir zu verstehen gibst? „Das Vaterland ist nur ein Zeltlager in der Wüste“, heißt es in einem tibetanischen Text. Ich gehe nicht so weit: ich gäbe alle Landschaften der Welt für die meiner Kindheit hin. Immerhin, muß ich hinzusetzen, wenn ich ein Paradies daraus mache, sind die Zaubertricks oder schwachen Stellen meines Gedächtnisses daran schuld. Verfolgt werden wir alle von unseren Ursprüngen; die Empfindung, die mir die meinigen einflößten, läßt sich zwangsläufig nur in negativen Ausdrücken wiedergeben, in der Sprache der Selbstbestrafung, der freiwilligen und öffentlich bekundeten Demütigung, der Zustimmung zum Unheil. Sollte für eine derartige Vaterlandsliebe die Psychiatrie zuständig sein? Ich gebe es zu, aber eine andere kann ich mir nicht vorstellen, und angesichts unserer Geschicke - warum sollte ich es Dir verbergen? - erscheint sie mir als die einzig vernünftige. 2

Nicht nur die französische Sprache, sondern das Schreiben selbst ist Therapie und Befreiung, denn alles, was einmal in Worte gefaßt wurde, verliert an Intensität und wird erträglich. Das Schreiben entspringt unmittelbar aus den Zwangsvorstellungen und Anspannungen des Lebens; Ciorans aphoristische und mephistophelische Texte regen zum Nachdenken über Gott und die Welt an und erhalten dadurch eine existentielle Dimension. Auf den Bezug zum realen Leben gründet sich auch der nonakademische Anspruch des philosophischen Diskurses bei Cioran.

Die Zweifel an der Entscheidung für das Exil, also für Frankreich, werden Cioran nie verlassen, obwohl es ihm in Frankreich nicht an Produktivität mangelt: Er verfaßt und publiziert zehn Bücher in französischer Sprache. Am 21. Januar 1970 schreibt er in einem Brief an Constantin Nioca, den Freund und Philosophen:

Wenn ich gut überlege, hast Du unter uns allen die beste Wahl getroffen. Man kann nur in der Nähe des Ursprungs zur Vollendung gelangen. Das ist, was Du ununterbrochen getan hast, hartnäckig und beharrlich. Es ist wahr, eine solche Beständigkeit hat Opfer abverlangt, aber Du brauchst sie heute nicht zu bereuen, solange sie - so scheint mir - von Anfang an Teil Deines Schicksals waren und sich bis zum Schluß als fruchtbar erwiesen haben. Ich weiß nicht, ob es sich bei Dir um Vorwissen oder um Instinkt gehandelt hat. Fest steht, daß Du schon immer verstanden hast, was ich lange Zeit für eine Extravaganz oder sogar für den Wahnsinn hielt: Daß das „Sein“ nur inmitten des eigenen Volkes möglich ist. (Brief 591)

Von den drei Großen der rumänischen Philosophie der Zwischenkriegszeit hat tatsächlich jeder seinen „Sonderweg“ gewählt oder eher gefunden: Constantin Noica blieb in der Muttersprache. Das bedeutete implizit die Entscheidung für das damals sozialistische Rumänien. Cioran entschied sich für die französische Sprache, zwangsläufig also auch für Frankreich. Micea Eliade fand einen Mittelweg: Er verfaßte seine wissenschaftlichen Schriften auf englisch und französisch, die literarischen aber auf rumänisch und pendelte zwischen Paris und Chicago. Cioran und Elide ist es gelungen, den engen Kreis der Nationalkultur zu durchbrechen. Es plagte sie aber ständig der innere Vorwurf, an der eigenen Substanz Verrat begangen zu haben.

Im Grunde haftete allen, unabhängig von ihrer Lebensentscheidung, das Stigma der kleinen Kultur an. Tragische Helden der Moderne, teilten sie das Schicksal Mihai Eminescus, des genialen Poeten und letzten europäischen Romantikers, den sie alle verehrten. Und wenn Cioran in seinen späten Briefen häufig über Eminescu reflektiert, so ist das schließlich auch ein Nachdenken über die intellektuelle Elite seiner eigenen Generation. In einem Brief an seinen Bruder schreibt er:

Ein großes Unglück für uns, daß er (Eminescu, Anm. CT) unübersetzbar ist; es gibt ihn in keiner anderen Sprache. [...] Unsere Sprache ist die poetischste unter allen, die ich kenne oder mir vorstellen kann. Was für ein Glück und was für ein Unglück zugleich. Ein Volk, verurteilt zur Isolation. (Brief 313 vom 26. Nov. 1976)

Seine einzige Religion, die Freiheit, hat Emil Cioran nie verraten: Er war nicht von einer festen Anstellung abhängig, hat noch mit vierzig in Mansardenzimmern von Hotels gewohnt und in Studentenkantinen gegessen. Er hat die Erniedrigungen eines bescheidenen, selbstbestimmten Lebens den Abhängigkeiten einer Karriere vorgezogen und hat - mit einer einzigen Ausnahme - alle Auszeichnungen und öffentlichen Auftritte konsequent abgelehnt. Die Ausnahme war der Prix Rivarol für Précis de decomposition. Der Preis wurde jährlich für das beste französische Buch eines ausländischen Autors vergeben und hat Cioran im französischen Sprachraum überhaupt bekanntgemacht. Unter dem Titel Lehre vom Zerfall erschien das Buch 1953 in der Übersetzung von Paul Celan in deutscher Sprache.

Auch sein Selbstvertrauen hat der Philosoph nie aufgegeben:

Sehen Sie, wenn ich mich für etwas beglückwünsche, dann für die Tatsache, daß ich auf keines Menschen Meinung Wert gelegt habe. Und das ist der Rat, den ich allen Schriftstellern gegeben habe: Legt keinen Wert auf die Meinung anderer. Ein Mensch, der an sich selbst nicht glaubt, der nicht eine Art mystischen Glauben an das hat, was er erfüllen muß, an seine Mission, muß kein Werk anfangen. Man sollte außer sich selbst keinem vertrauen. Anders, c'est pas la peine. Man soll keinen um Rat oder um die Meinung fragen - nur bei Details. Diese Sache - „was soll ich tun ... was soll ich tun ...“ - hat keinen Sinn. Für einen Schriftsteller sind sein Leben und sein Werk Abenteuer, die er auf sich nimmt. Alle schicken mir Manuskripte. Und - das sollte man nicht tun. Entweder man glaubt an sich, oder man tut es nicht. Wenn man es nicht tut, hat es keinen Sinn, es ist vorbei, es lohnt sich nicht.3

Anmerkungen:
1 Das Zitat stammt aus dem Brief 42, geschrieben 1947 in Paris an den Bruder des Schriftstellers, Aurel Cioran. Alle im Text zitierten Briefstellen sind dem Band Cioran, Demil: Briefe an die Hinterbliebenen, Humanitas, Bukarest, 1995, entnommen. Im Folgenden werden in Klammern die Nummer des Briefes und - falls nicht bereits erwähnt - das Datum angegeben.
2 Aus Geschichte und Utopie, Klett, Stuttgart, 1965. Der hier angesprochene Freund ist der rumänische Philosoph Cinstantin Noica.
3 Aus Liiceanu, Gabriel: Lebenswege: E. M. Cioran, Humanitas, Bukarest, 1995


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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