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Helmut Hirsch

Jakob Michael Reinhold Lenz

Zum 250. Geburtstag des Dichters am 12. Januar 2001

Der Schöpfer hat unserer
Seele einen Bleiklumpen
angehängt.
J. M. R. Lenz

Was ist der Mensch, wie soll er leben, wie handeln? Fragen über Fragen, immer wieder gestellt von den Dichtern aller Zeiten. Auch Lenz zweifelte und fragte in Poesien und Briefen, was bleibt vom Menschen, der zersprengt und getrieben, in Teile zerstückelt, in hemmende Verhältnisse hineingepreßt, die nicht seiner Natur entsprachen. Es klingt wie ein langer Aufschrei, was Lenz vor zweihundert Jahren anstimmte: „Wir werden geboren - unsere Eltern geben uns Brot und Kleid - unsere Lehrer drücken in unser Hirn Worte, Sprache und Wissenschaften - irgendein artiges Mädchen drückt in unser Herz den Wunsch, es eigen zu besitzen, es entsteht eine Lücke in der Republik, wo wir hineinpassen - unsere Freunde, Verwandte, Gönner setzen an und stoßen uns glücklich hinein - wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum, wie andere Räder, und stoßen und treiben - bis wir, wenns noch so ordentlich geht, abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen - das ist, meine Herren! ohne Ruhm zu melden unsere Biographie - und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglich-künstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufe nennen, besser oder schlimmer hineinpaßt - heißt das gelebt? heißt das, seine Existenz gefühlt, seine selbständige Existenz, es muß in was Besserm stecken, der Reiz des Lebens; denn ein Ball anderer zu sein, ist ein trauriger, niederdrückender Gedanke, eine ewige Sklaverei. Was lernen wir hieraus? Daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, das diese handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln.“

Hier spricht einer über die Zeiten hinweg zu uns. Die Stimme eines Mannes, reich an Talenten, der seinen Raum zu handeln nicht finden konnte. Früh schon schert der 1751 als Sohn eines livländischen Pfarrers Geborene aus den vorgezeichneten Bahnen aus. Läuft dem Theologiestudium in Königsberg weg, will unwiderruflich dem „größten Gefühl seiner Fähigkeiten, seines Selbst“ genügen. Lebt ständig im tiefsten Zwiespalt mit sich und der Welt, wird Diener zweier Barone, tritt in Straßburg in französische Militärdienste. Und rechtfertigt die quälenden Begleitumstände dieser Stellung damit, daß er in Straßburg zugleich Anschluß an den Kreis um Goethe, Herder und Merck findet. Von 1771 bis Sommer 1776 lebt Lenz hier die besten, die produktivsten Jahre seines Lebens. Als er Goethe wenig später nach Weimar folgt, fällt Lenz einer Intrige, bei der „Freund“ Goethe eine unrühmliche Rolle spielt, zum Opfer. Aus Weimar ausgewiesen, irrt er fortan durch halb Europa, schreibt Briefe, die sein bejammernswertes Schicksal beklagen. Fast immer ohne feste Bleibe, kommt er schließlich 1780 nach Moskau. Aufgerieben, umhertaumelnd, krank und im tiefsten Elend stirbt er auf den Straßen Moskaus in der Nacht vom 23. zum 24. Mai 1792.

Von seinen zeitweiligen Mitstreitern des Sturm und Drang zumeist verspottet und verleumdet, ward Lenz bald vergessen. Doch immer auch wieder neu entdeckt. Der Romantiker Ludwig Tieck gibt als erster 1828 seine Werke heraus. Allerdings schwärmt Tieck in seiner Einleitung mehr für Goethe, der Lenz von sich fortstieß. Georg Büchner ist von den beiden Lenz-Dramen Der Hofmeister und Die Soldaten stark beeindruckt. Er wird Anregungen aus diesen Stücken auch in seine Dramen aufnehmen. Vor allem aber schreibt Büchner mit seiner „Lenz“-Novelle ein Glanzstück neuerer deutscher Prosa.

Schöne Stücke wollte Lenz nicht schreiben, nicht „Brustzuckerbäcker“ oder „Pillenversilberer“ sein. Das Schöne schien ihm auch des Schrecklichen Anfang. Und Sensation, auch Skandal und Katastrophe sind ihm gerade recht, wenn es darum geht, die „vertaubten Nerven des Mitleids aufzureizen“, denn er weiß aus eigener Erfahrung, die er in den Anmerkungen übers Theater verarbeitet: „Der Schöpfer hat unserer Seele einen Bleiklumpen angehängt, der wie die Penduln an der Uhr sie durch seine niederziehende Kraft in beständiger Bewegung erhält.“

Und schließlich Brecht, der „Die Soldaten“ und den „Hofmeister“ am Berliner Ensemble inszenierte. Für ihn, der Gegensätze dialektisch liebte und lobte, waren Lenzens Dramen „die früheste und sehr scharfe Zeichnung der deutschen Misere“. Gerade am Stand des Soldaten hatte Lenz aus nächster Nähe kennengelernt, daß „jeder sein individuelles Nervengebäude, und also auch sein individuelles Gefühl hat“, das aber, und darum geht es in diesem Drama, nicht zur Verwirklichung des einzelnen gelangen kann. Nicht minder schlimm erging es den „Hofmeistern“. Im zweiten Akt des Lenzschen Schauspiels heißt es: „Die edelsten Stunden des Tages bei einem jungen Herrn versitzen, der nichts lernen mag und mit dem er's doch nicht verderben darf, und die übrigen Stunden, die der Erhaltung seines Lebens, den Speisen und dem Schlaf geheiligt sind, an einer Sklavenkette verseufzen; an den Winken der gnädigen Frau hängen und sich in die Falten des gnädigen Herrn hineinstudieren; essen, wenn er satt ist, und fasten, wenn er hungrig ist, Punsch trinken, wenn er pissen möchte, und Karten spielen, wenn er das Laufen hat! Ohne Freiheit geht das Leben bergab rückwärts, Freiheit ist das Element des Menschen wie das Wasser des Fisches, und ein Mensch, der sich der Freiheit begibt, vergiftet die edelsten Geister seines Blutes, erstickt seine süßesten Freuden des Lebens in der Blüte und ermordet sich selbst.“

Was heute bei Lenz fesselt, wenn er von Intendanten oder Lesern wiederentdeckt wird, ist seine unbedingte Kraft, Leidenschaft und Unmittelbarkeit, dabei immer ein wacher Kopf und ein zartfühlendes Herz. Aber stets setzt sein verletzlicher Wille die Maxime: „daß handeln, handeln die Seele der Welt sei“.

Für heutige Leser allemal spannend und anregend zugleich: die Erzählungen von Jakob Michael Reinhold Lenz. Zerbin oder die neuere Philosophie klingt als Titel etwas trocken, der Text ist aber lebendig ganz nach der Art Lenzscher Erfahrungen und Deutungen. „Sich selbst alles zu verdanken zu haben“, den andern nichts, das ist Zerbins Lebensplan, der schon mit einem unumstößlichen Final-Satz eingeläutet wird: „Wie mannigfaltig sind die Arten des menschlichen Elends.“ Der süchtig und selbstvergessen sein Leben verspielende Zerbin könnte auch unserer Zeit angehören. Dem hochfliegenden Aberwitz, „sich selbst alles zu verdanken zu haben“, den andern aber nichts, folgt hier der schmähliche Fall ins Bodenlose. Zerbin, „ein junger Berliner, mit einer kühnen, glühenden Einbildungskraft“, ist zugleich ein Tor. In den Damen sieht er „lauter überirdische Wesen“, in gewissen Handgriffen des Kartenspiels „verstohlene Winke der Zärtlichkeit“. Immer greift er daneben, tappt im Dunkeln, verliert Freundschaft und Nähe und verzagt: „Der ganze Mensch ist seiner Vernichtung im Angesicht.“ Das „Schreckliche seiner Geschichte“, er mißbraucht die Zuneigung eines unschuldigen Mädchens. Zerbin wird zynisch und gemein, stürzt sich in Intrigen, zuletzt, nachdem das Mädchen dem Henker verfallen ist, in den Stadtgraben. Letzte Station für einen, der tief vom „Luftschloß seiner Wünsche“ herunterfiel.

Eine ganz andere Szenerie bietet die Erzählung Empfindsamster aller Romane oder lehrreiche und angenehme Lektüre fürs Frauenzimmer. Eine Sammlung von burlesken, pikanten und durch und durch abenteuerlichen Märchen. Als Personal treten Schildkröten auf, die sich auf eine „weite Reise“ machen, Frauenzimmer, die sich im Postwagen mit einem Buchhändler nicht nur über Bücher unterhalten. Auch Mäuse sorgen für allerhand Aufregung und Schabernack, denn Verwandlung ist ihnen spielend leicht möglich in fast jeder aussichtslosen Situation. Auch gelingt es einer Schildkröte mühelos, sich in eine Maus zu verwandeln. Ein Spaß ohne Ende, würde da nicht auf der letzten Seite der Postwagen umkippen und alle Passagiere mit verschiedenen Stimmen und einem „vermischten verworrenen Geschrei übereinandertaumeln“.

Späße dieser Art sind die Ausnahme im Werk von Lenz. Er rüttelt den Leser oder Zuschauer zumeist mit einer Anhäufung von Abscheulichkeiten wach. Selbstentmannung, Selbstverstümmelung, gar Schändung, Vertauschen von Kleinkindern, Verabreichungen von Gift, die Skala des Entsetzlichen ist groß und der Blick auf Shakespeare unvermeidlich. Zwei Aufsätze gelten schließlich dem Engländer, Hamlet allem voran.

Entwürfe, Widersprüche, Depressionen, Lebenskrisen und in den letzten Jahren eine manische Projektmacherei. So jagte und litt Lenz durch den Irrgarten der Welt. Vor zweihundertfünfzig Jahren geboren, ist er mitnichten ein toter Autor. Wo immer der Leser eine Seite aus diesem Werk aufschlägt, wird er von Lenz auf Entdeckungsreise geschickt. Selten Kleinigkeiten, wo es ums Ganze geht: „Die Welt sollte doch auch itzt anfangen, größere Leute zu haben als ehemals. Ist doch so lange gelebt worden.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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