Eine Rezension von Walter Unze


Entstehung und Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin

Reinhard Mocek: Die werdende Form.
Eine Geschichte der Kausalen Morphologie.
Basilisken-Presse, Marburg an der Lahn 1998, 579 S.

Eine Besprechung, die diese monumentale Untersuchung richtig würdigen würde, kann man im Rahmen dieser Zeitschrift nicht erwarten: Es müßte ein eigener wissenschaftlicher Artikel sein, in dem Zielstellung und Materialfülle, historische Darstellung und Thesen des Autors einer gründlichen Analyse unterzogen werden. Soviel kann und muß jedoch festgestellt werden: Diese Arbeit des Philosophen und Wissenschaftshistorikers Reinhard Mocek (*1936), erschienen in der von Armin Gneus herausgegebenen Schriftenreihe ACTA BIOHISTORICA, sucht in ihrer Komplexität und Detailliertheit ihresgleichen.

Dem Autor geht es, wie er in der Einleitung hervorhebt, um die ausführliche Darstellung der Kausalen Morphologie als einer klassischen Wissenschaftsdisziplin mit durchaus modernem Image. Dementsprechend ist der Aufbau der Untersuchung gestaltet: In drei Teilen werden die wissenschaftlichen und philosophischen Vorleistungen zur Begründung dieser Disziplin (Teil I), die Klassiker dieser Disziplin (Teil II) sowie die weitere Entwicklung bis in die Gegenwart (Teil III) dargestellt. Dabei stehen durchgängig drei Fragestellungen bzw. Problemfelder im Mittelpunkt; einmal der theoretische Entwicklungsweg der Kausalen Morphologie, zum anderen die Rolle von Leittheorien, wobei den Autor vor allem die Frage interessiert, „ob sich nicht auch auf alten Paradigmen neue Forschungseinsätze begründen lassen“ (S. 24), schließlich die theoretischen Grundlagen für eine aktuelle Wirksamkeit der Kausalen Morphologie. Es wird in diesem Zusammenhang hervorgehoben, daß für die vorliegende Arbeit die neuere Geschichte des morphogenetischen Problems den eigentlichen Interpretationsleitfaden abgibt.

Aus diesen Problemstellungen und ihrer Behandlung ergibt sich ein logisch nachvollziehbarer inhaltlicher Aufbau, den Mocek eingangs selbst so skizziert: „Über die naturphilosophische und biotheoretische Vorgeschichte von Wolff bis Schelling, von Cuvier und Gegenbaur nähern wir uns der kausal-morphologischen Kernfrage, wie die ,werdende Form‘ in den Mittelpunkt des forscherischen Interesses rückt. Dabei wird die Fragestellung von Wilhelm His dem eigentlichen Durchbruch, den Wilhelm Roux erzielte, vorangestellt. Hans Driesch treibt den systematischen Lösungsansatz weiter, droht ihn jedoch in das vitalistische Abseits zu stellen. Danach wird das Problem ... Schritt für Schritt auf moderne selbstorganisatorische Theorien projiziert, womit Ansatzpunkte für das Neuaufgreifen eines ehrwürdigen Problemes im modernen Diskurs um die Evolution von Leben sichtbar werden.“ (S. 40/41)

Das Schwergewicht der Analyse liegt naturgemäß auf dem Teil II. Hier werden mit Wilhelm His (1831-1904), Wilhem Roux (1850-1924) und Hans Driesch (1867-1941) jene drei Wissenschaftler in ihrem Leben und Schaffen vorgestellt, denen das besondere Verdienst zukommt, sich dem Formproblem innerhalb der Biologie erfolgreich gewidmet zu haben. Der Erkenntnisfortschritt wird vor allem an der Formbildung als mechanische Selbstleistung (His), der Selbstorganisation als Selbstdetermination (Roux) und der Bildung von Ordnung aus gestörter Ordnung (Driesch) festgemacht. Jede dieser drei Darstellungen stellt eine selbständige wissenschaftshistorische Untersuchung dar und ist doch zugleich durch die inhaltliche Verknüpfung über das Formproblem eine übergreifende Analyse zu einer ganzen Wissenschaftsdiszplin, deren Bedeutung in der Geschichte der Biologie vom Autor hoch eingeschätzt wird. Für ihn bildet die Kausale Morphologie „das Übergangsglied in der Kette der modernen biologischen Forschung von der vergleichenden Betrachtung des Forschungsgegenstandes zur experimentellen Analyse ... Als erste systematisch experimentierende biologische Disziplin hat sie ... den Wandel der Biologie zu einer modernen Naturwissenschaft eingeleitet und selbst vollzogen.“ (S. 90)

Der Apparat des Buches hat - wie in solchen Arbeiten üblich - mit seinen 175 Seiten einen Eigenwert. Nicht nur die Anmerkungen, die sich zu kleinen Artikeln auswachsen, und die ausführliche Literaturliste (S. 454-515) tragen dazu bei, sondern vor allem auch die Verzeichnisse der Schriften von His, Roux und Driesch am Ende des Bandes.

Für Reinhard Mocek bedeutet diese seine Arbeit eine Rückkehr zu einer Problematik, mit der er sich bereits vor mehr als dreißig Jahren in seiner Dissertation befaßt hat. Darin liegt sicher ein besonderer Reiz und wohl auch eine Herausforderung. Für den Leser ist dabei eine Untersuchung herausgekommen, die nicht nur Antworten gibt zur Kausalen Morphologie, ihren theoretischen Fragen und ihren Repräsentanten. Es ist zugleich auch eine Arbeit, die auf hohem Niveau demonstriert, wie moderne Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie möglich ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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