Eine Rezension von Bernd Heimberger


Haut als Haut

Jamal Tuschick (Hrsg.):
Morgen Land. Neueste deutsche Literatur.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2000, 302 S.

Jüngste abendländische Literatur läßt wieder leichter an den „Untergang des Abendlandes“ denken. Zumindest die Literatur, die vor allem deutsche Verlage dokumentieren. Alle immer bedrohlicher sich aufblähenden Verlagsgruppen kümmern sich um den Schaum, der in den Szenen einiger Stadtdörfer geschlagen wird. Deutschland, Deutschland vor allem sichert sich die Seifenblasenliteratur der comedysnobistischen Textaufblaser der Nach-Achtundsechziger-Generation. Die Anthologie des einen Verlags wird zur Heißluft für die Anthologie des nächsten Verlages. Alles will hochgeblasen sein. Demnächst wird sich alles verflüchtigen. Im Dunkel des Abendlandes. Lange gab es nicht so viel neue deutsche Literatur. Nun auch noch „Neueste deutsche Literatur“? Geliefert vom Fischer Taschenbuch Verlag. Muß doch nicht sein! Muß sein! Die Fischer-Ausgabe folgt keinem Trend. Die Anthologie Morgen Land stellt nicht nur Ansprüche. Die Anthologie wird gestellten Ansprüchen gerecht. Die von ihr versprochene „Neueste deutsche Literatur“ geht tatsächlich dahin, wo Literatur hingehen soll - zum Menschen. Das ist weit mehr, als die l'art pour l'art-Pop-Literatur der Szene-Szenaristen bieten kann und will.

Von einem der Beiträger des Bandes, dem in Tanger geborenen Abdellatif Youssafi, heißt es: „Er hat ein paar Sachen hautnah erlebt, über die andere nur schreiben.“ Lebenssituationen und -umstände führten dazu, daß sich die meisten Autoren, die in der Sammlung erscheinen, das Leben nicht von der Haut halten konnten. Einige der „Morgen Land“-Verfasser sind wirklich Morgenlandkinder. Zwischen 1959 und 1981 geboren, in fernen wie nahen europäischen Städten, zwischen Istanbul und Leningrad, sind ihre Namen das Fremdeste an ihnen in der deutschen „Fremde“. Ausgenommen die Deutsch-Jugoslawin Elena Lange, der in Hamburg die Wiege in die Welt gestellt wurde. Die nicht-deutsche, bedingt-deutsche Biographie war die Voraussetzung, um in die Anthologie von Jamal Tuschick aufgenommen zu werden, der im Hessischen erwachsen wurde. Tuschicks „Neue deutsche Literatur“ ist nicht die Gegen-Parade zur Litera-Tour-Parade, die seit Mitte der Neunziger durchs Feuilleton gepaukt wird. Morgen Land ist ein Lorbeerkranz, den sich die deutsch schreibenden „Ausländer“ in Deutschland selbst geflochten haben. Einigen Autoren ist es gelungen, den Deutschen ein Deutsch beizubringen, daß ihnen Mund und Nase offen stehen. Auf sie verzichten, weil sie bereits in den beliebigen Bänden der neuen deutschen Literatur zu Hause sind? Auf alle, von Maxim Biller bis Zafer Senocak, die sich gut eingerichtet haben in allen Wort-Medien: Neue und neueste deutsche Literatur sind so unendlich weit nicht voneinander entfernt. Manches Prosastück der Tuschick-Truppe ist eher Feuilleton, Kolumne, Bericht als erzählende Prosa. Was in der DDR als existentielle Literatur bekannt wurde und populär war, ist in den epischen Teilen der Anthologie zu entdecken. Haut ist wieder Haut. Warm und kühl. Feucht und trocken. Glatt und grob. Die Sehnsucht nach Berührung bleibt nicht nur Sehnsucht. Berührungen bekommt zu spüren, wer liest, wie die Nicht-Deutschen das Deutsche und die Deutschen „haut nah“ berühren. Das riecht. Wenn nicht nach Literatur, so doch nach Leben. Anders als die Literatur der desodorierten neuen deutschen Literatur, die ihre Haut unter Seidenwäsche, Schlips und Nadelstreifen versteckt. Morgen Land in Sicht!? Wann war so viel Einmischung in die deutsche Literatur? Chamisso, Fontane, Kafka werden sich im Himmel auf die Schenkel klopfen und die neuesten Entwicklungshelfer herzlich willkommen heißen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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