Eine Rezension von Hans-Rainer John


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Henker und Opfer - Spanien 1936

Manuel Rivas: Der Bleistift des Zimmermanns
Roman.
Aus dem Galicischen von Elke Wahr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 174 S.

Eine Stadt im spanischen Galicien, Gegenwart. Bevor der Eros-Club „Walküre“ am frühen Abend öffnet, erzählt der alte Herbal, Türsteher, Ordner und Rausschmeißer, einem der hier tätigen Mädchen seine Erlebnisse während des Bürgerkriegs.

Im Februar 1936 waren die Republikaner als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen, aber die Nationalen, die Falangisten General Francos, darunter Herbal, verweigerten die Anerkennung. Sie okkupierten die Macht und kerkerten die politischen Gegner gemäß schwarzer Listen ein. A Falcona, das Gefängnis von Santiago, war überfüllt, und die „Brigade des Morgengrauens“ holte die Häftlinge nachts aus den Zellen, um sie grausam zu foltern und zu verstümmeln. Um der Schinderei zuvorzukommen, erschoß Herbal damals kurzerhand einen todgeweihten Maler, dessen Talent er sehr bewundert hatte. Der Mann hatte stets einen Zimmermannsstift hinter das Ohr geklemmt, immer bereit zu zeichnen, und seine Mitgefangenen porträtiert. Die Stimme des Malers habe ihn noch lange begleitet, wie auch sein Stift, mit dem er gerade auf eine Serviette kritzelte ...

Was wie ein Genrebild aus dunkelster Zeit beginnt, mausert sich bald zu einem Doppelporträt. Zu einem charakterisiert sich Herbal, der viele grausame Dinge getan hat, aber nicht ohne Gemüt ist, natürlich selbst, zum anderen geht es um Dr. Daniel Da Barka, ein großes medizinisches Talent und führender Kopf der Republikaner, der sich auch im Gefängnis als Mensch, Arzt und Politiker bewährt und unter widrigsten Umständen als Autorität behauptet. Er galt schon immer als hochbegabter Arzt, dozierte trotz seiner Jugend an der Universität, war ein gesuchter Artikelschreiber und erfolgreicher Versammlungsredner, der sich mit Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten zusammenraufte. Vor allem aber gewann er die vorbehaltlose und hingebungsvolle Liebe der schönen Marisa Mallo, obwohl diese einer mächtigen konservativen Familie entstammte, die sich der Verbindung nach Kräften widersetzte. Herbal hatte Barkas erfolgreichen Weg mit Neid und Haß verfolgt, es war sein Triumph, als er den Arzt bei Beginn des Putsches niederschlagen und einkerkern konnte. Barka wurde als unverbesserlicher Roter zum Tode verurteilt, war aber nicht umzubringen. Er überstand eine Scheinhinrichtung und wurde nur schwer verletzt, als er zum zweitenmal vor dem Peleton stand. Er wurde schließlich zu „Lebenslänglich“ begnadigt, avancierte zum Gefängnisarzt, setzte sich selbstlos für seine Mithäftlinge ein, dirigierte den Widerstandskampf gegen das verbrecherische (aber vom Papst gepriesene und gesegnete) Regime aus dem Kerker heraus. Zwanzig Jahre später kam er frei, ging mit seiner Frau nach Amerika und Mexiko, hatte Umgang mit Che Guevara. Der Büttel Herbal aber, der den Verhaßten wie ein Jagdhund verfolgte, scheiterte nicht nur menschlich, er kam auch selbst hinter Schloß und Riegel, als er seine wilden Sitten nach Ende des Bürgerkriegs nicht ablegte und seinen Schwager einfach tötete. Faktotum im Puff - das war nun die letzte Station im Alter ...

„Der Bleistift des Zimmermanns“ hat in Spanien, wie man hört, ungeahnten Erfolg gehabt. Gegenwärtig wird er in elf Sprachen übersetzt und von Gutiérrez Aragón verfilmt. Das ist erstaunlich, denn das Buch ist nicht einfach zu lesen. Manuel Rivas (geboren 1957 im galicischen La Coruna) erzählt in fast filmischen Sprüngen, spart alle Satzzeichen zur Kennzeichnung wörtlicher Rede aus, liebt unübliche Begriffe, die auch in größeren Lexika kaum zu finden sind. Vielleicht begeistert seine poetisch-bildhafte, an Lyrik geschulte Sprache. Da hat Barka „Augen, in die das Begehren eingebrannt war“ und Herbal zielt „mit dem Gewehr seines Blickes“, um auch den großmäuligsten Kunden dazu zu bringen, still das Geld auf den Tisch zu legen. Einer „trat eine Zigarette auf dem Boden aus, als wäre es der abgetrennte Schwanz einer Eidechse“ und „Im Dorf lag das Alter auf der Lauer“. Es kann auch sein, daß die Popularität darin wurzelt, daß hier oft tabuisierte Vergangenheit aufgearbeitet und daß undogmatisch und unschematisch vom moralischen Sieg des Guten über das Böse erzählt wird, von der Überlegenheit wahrer menschlicher Größe, ohne daß eine Figur wie Herbal gänzlich preisgegeben würde. (Er ist ja auch nur ein kleines Licht im großen Spiel der Kräfte.)

Was Rivas schreibt, ist zweifellos Literatur, und er hat einen starken Aussagewillen. Seine Geschichte rührt an, überwältigt freilich nicht. Zwei Inkonsequenzen springen zudem ins Auge. Erstens ist nicht einzusehen, warum der zeitgenössische Rahmen für die Geschichte, die jahrzehntelang zurückliegt, gedoppelt wird. Vor dem Kapitel, das in der „Walküre“ spielt, liegt nämlich eines, in dem ein Reporter den alten, schwerkranken, aber geistig lebendigen Barka aufsucht, um ihn zu interviewen. Es endet jedoch, ehe das Interview beginnt. Schade, es hätte Barka Gelegenheit gegeben, die Ereignisse aus seiner Sicht zu schildern. Was Herbal im folgenden der Hure erzählt, hat nämlich Untiefen und weiße Flecken, weil der Büttel nicht alles auszuspähen und zu begreifen vermochte, was Barka betraf. Der doppelte Blick hätte reizvoll sein können: der Putsch aus Sicht von Opfer und Henker. Darauf jedoch hat Rivas nicht gezielt. So aber bleibt die Reporter-Szene ohne tiefere Funktion. Sie erzählt nur Zuständliches: Barka hat ein hohes Alter erreicht, seinen Idealen nicht abgeschworen, er hat Kinder gezeugt, ist nach Spanien zurückgekehrt und liebt seine Frau noch immer wie am ersten Tag.

Die zweite Inkonsequenz betrifft den „Bleistift“. Er ist titelgebend, hat aber auf die Ereignisse keinerlei Einfluß. Er soll natürlich ein Symbol darstellen, aber das geht irgendwie nicht auf. Er gehörte - wie man erfährt - einst einem Tischler, wurde einem Schiffszimmermann, dann einem Gewerkschaftsfunktionär und schließlich dem Maler weitergereicht - Leuten, die sich um die Veränderung und Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse bemüht haben. Nachdem Herbal sich den vielbenutzten und offenbar nie abgebrauchten Stift jahrzehntelang angeeignet hat („Die Erinnerung an einen, den ich getötet habe“), reicht er ihn nun weiter an die Hure, die ihm zuhört: „Der erste Kunde steht schon da und wartet.“ Wäre nicht eine sinnfälligere Lösung in Richtung Metapher denkbar gewesen statt der zufälligen, um die Titelgebung zu rechtfertigen?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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