Eine Rezension von Friedrich Schimmel


cover

Die Suche nach Leichtigkeit ist mit Anstrengung verbunden

Angela Krauß: Milliarden neuer Sterne
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 51 S.

Angela Krauß versetzt die Protagonistin ihrer Erzählung für einen Monat nach New York. Es beginnt mit einer Enttäuschung. Die jahrzehntelangen Vorstellungen von dieser Stadt, betrieben in Neu Kynitzsch (bei Leipzig), entsprechen, wie das immer so ist, nicht der Erwartung. Auf den ersten Blick jedenfalls. Die Erzählerin hat „New York in Neu Kynitzsch nie wirklich vermißt“. Doch das änderte sich, plötzlich vermißte sie es doch, mehr noch, nun gab es ein elementares Verlangen nach der Stadt, „so daß es nicht nur Überlegungen, sondern auch meine Phantasie auslöschte. Es war die Essenz des Verlanges: Es war abstrakt.“ In der alten Welt, in NKY, „konnte jeden Augenblick etwas eintreten. Meistens handelte es sich um Vergangenheit.“ Doch endlich einmal soll es wieder Zukunft sein, also New York, also Fremde. Süchtig nach Leben, das neu, anders, unbekannt, fremd und dennoch ersehnt worden war. Im Hinterkopf die hämmernde Furcht, „es könnte einmal alles bekannt sein vorn, nichts Unbekanntes mehr, das heißt, keine Zukunft. Ich meine: Tod auf der ganzen Linie.“

In New York wird das andere Leben zunächst in größter Zurückgezogenheit gelebt. Was war, war fremd, nun wird es vergessen oder doch wenigstens heftig verdrängt. Immer öfter kann sich die namenlose Erzählerin an nichts mehr erinnern. Sie beobachtet in New York Leute auf der Straße, überhaupt ist sie fast nur zu Fuß unterwegs. Ein gestriegelter Italiener offenbart sich in einer „Erfüllungszeremonie“, wie geschaffen für „unsere verborgene Welt“.

Warum aber nur, fragt sich der Leser, ist sie nun eigentlich gerade nach New York gekommen? Denn ganz grundsätzlich anders ist das ja alles gar nicht, was sie da sieht. Nur noch ein bißchen unpersönlicher, ein wenig größer und schneller sowieso als alles in Europa. In der Mitte dieser Erzählung wird der Grund angegeben: „Ich habe alles ersparte Geld genommen, um in den letzten Tagen dieses Jahrhunderts die Zukunft zu studieren, was mir am ersten Tag des künftigen einen Vorsprung verschaffen wird. Deshalb bin ich hergekommen.“ Das klingt banal, geradezu kindisch. Ist aber doch feine Ironie, wie der Gang der Handlung, der eigenwillige Schritt auf Silvester 1999 zu, das vorauserzählt und zugleich erinnert wird. Und Düfte werden ausprobiert, Bilder in Bildern erwecken Emotionen: „Vor mir unbekanntes Gebiet, neues Theater, anderes Leben: grob, grell, gegenwärtig.“

Ein amerikanischer Tagtraum, halb Abenteuer, halb Täuschung. Zukunft muß es sein, aber was ist Zukunft? Für eine Mitteleuropäerin, die sich nicht mehr erinnern will? Weil ihr „die Zeit dort drüben“, also in Klein-Europa, so bedeutungslos geworden war.

Beides ist Wahn, Überdruß dort, Hoffnung hier. Hier, das heißt in dieser Erzählung: New York. Da ist gerade Vorweihnachtszeit. Das erinnert an etwas. Froh ist die Erzählerin, daß sie in einer russischen Einwandererfamilie keinen Baum der alten Erinnerung sieht, zugleich vermißt sie aber etwas in dieser amerikanischen Vor-Weihnacht: „Es duftet noch immer nicht.“ Düfte, ja die Düfte, die stecken von allen Erinnerungen vielleicht am tiefsten von allen in uns. Das bleibt ein kleines Signal, wenngleich ein verräterisches. Indessen wird die andere Zeit, das andere Leben, das vergangene, so gut es nur geht, mit jedem Tag mehr verdrängt. Einmal ist die Mutter am Telefon zu hören, besorgt spricht sie zur Tochter über das vermeintliche Schnee-Chaos in New York. Immer die alte Litanei: „Ich habe dir gleich gesagt, pack dir dickere Sachen ein, das sind dort die Naturkatastrophen, die kennen wir hier ja gar nicht, du wolltest mir das nicht glauben, ihr Kinder glaubt einem ja nie etwas, und wenn es euch das Leben kostet.“ Spätestens hier weiß der Leser, warum diese plötzliche Reise stattfinden mußte. Sich von etwas losschälen, das nicht mehr zu ertragen war, das ist es. Und wer das will, sieht alles, was anders ist, in noch grellerem Licht. Den New Yorker Kaufrausch, die kecken Sportsleute, die gewaltige Architektur. Pausenlos Blicke in die Höhe oder in die Tiefe. „Nichts Vergebliches beschwert den neuen Tag“, verkündet die Erzählerin stolz. Denn sie lebt nur aufnehmend, atmet alles aus, was nicht wichtig ist, geistert bindungs- und beziehungslos durch New York. Hier nun meint sie, Leichtigkeit, die sie immer ersehnt hat, gefunden zu haben. Immer war diese Suche mit Anstrengung verbunden, hier nicht. Doch ist alles Täuschung, denn die Autorin spielt wirbelnd leise, ironisch mit ihrer Protagonistin. Unheimlich, diese seltsame Art Freiheit hat von ihr Besitz ergriffen, von der sie nichts wußte. Zugleich setzt aber eine seltsame Stockung ein: „Die Ereignisse, in die ich normalerweise durch Sehnsucht, Erregung und Erwartung verwickelt werde, bleiben neuerdings selbständig, und ich bleibe es auch.“ Frei von der Welt der anderen, frei vom bisherigen Leben, keine Gemeinsamkeit mehr fordernd, das andere respektierend, nicht mehr in Mitgefühl verfallend, nicht mehr die Einheit der Teile ersehnend. Das heißt: „Leichtigkeit hat von mir Besitz ergriffen: Freiheit.“

Der Silvestertag 1999 in New York. Geschrieben lange vor dem Datum selbst. Auch Ironie, die längst überholt worden ist. Und die Hetzjagd nachts durch die Subway, von Station zu Station, immer nur Sperren, kein Blick nach oben, dann klappt es doch noch. Der Blick auf die Stadt, die sich „vom Größenwahn erschöpft“ hat und wieder Gedanken an die Kindheit erwachen läßt: „Meine Finger schleiften am Stein neben mir entlang, ich ließ sie schleifen wie früher als Kind auf dem Nachhauseweg an den harten Buchsbaumhecken, abwesend und hellwach zugleich und mit allen Gedanken das Ungreifbare umfangend: Zukunft.“

So endet diese phantastische Erzählung. Zukunft, das ist der Versuch einer neuen, einer elementaren Selbst- und Welterfahrung. Altes abstreifen, um den Kern des Wesens aber schließlich doch wieder zu gewinnen. Dieses „abwesend und hellwach zugleich“ ist wie ein anhaltender, verzögerter Sprung durch die bleierne Glocke des gewöhnlichen Lebens. Die erreichte Leichtigkeit ist trügerisch. Es gibt sie für sich genommen nur sekundenweise, „das Gehirn hat sein eigenes Zeitmaß“, heißt es zu Beginn der Erzählung. Und daß Münchner Astrophysiker Stunden vor ihrer Abreise nach New York ihr Teleskop „auf einen vollkommen leeren Ausschnitt des Himmels richteten“, gilt als Blick in die „Zukunft“, denn was sie sahen, war viel und ziemlich unbegreifbar: „Milliarden neuer Sterne.“

Milliarden neuer Sterne erzählt die Geschichte einer Erfahrung. Die Erfahrung, daß der Gewinn einer neuen Leichtigkeit des Seins ein großes Maß an Lebendigkeit bedeuten kann. Die Erfahrung aber auch, daß gerade jene Leichtigkeit nur schwer, unter Aufbietung aller Kräfte, auch der des Vergessen-könnens, des menschlichen Verlustes, zu haben ist. Mit den prägnanten Worten dieser Erzählerin: „Eine schwere Aufgabe, eine Sache, die man sich verdienen muß.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite